Am 7. Juni 1972 wurde Gudrun Ensslin in Hamburg festgenommen – und schon wenige Tage später war ein Kassiber von ihr bei Ulrike Meinhof gelandet
Kleider machen Leute – das gilt sogar für steckbrieflich gejagte Terroristinnen. Am Mittwoch, dem 7. Juni 1972, betrat gegen 13 Uhr eine Kundin die elegante Boutique „Linette“ am Hamburger Jungfernstieg 41/42 und sah sich um. Das Geschäft bot als eine der ersten Adressen in Deutschland importierte italienische Designermode an, etwa von Prada oder Gucci.
Die Kundin legte im hinteren Teil des Verkaufsraums ihre dunkelblaue Wildlederjacke ab. Als die Boutique-Geschäftsführerin die Jacke aufhängen wollte, fiel ihr deren Gewicht auf. Mit einem Blick erkannte sie: In der Außentasche steckte eine Waffe. Nachdem vier Verkäuferinnen diesen Eindruck bestätigt hatten, rief die Geschäftsführerin die Polizei.
Inzwischen hatte sich die Kundin, eine gehetzt und „leicht ungepflegt“ wirkende, hagere Frau mit strubbeligem dunklem Haar, drei Pullover ausgesucht und ging in eine Kabine, um sie anzuprobieren; dabei nahm sie ihre Jacke mit sich. Wenig später trug sie die Lederjacke über dem weißen Pullover für 59 Mark (nach Kaufkraft umgerechnet heute etwa 180 Euro) und trat an die Kasse.
Ensslin im Hamburger Polizeipräsidium am 7. Juni 1972
Den Verkäuferinnen gelang es, Zeit zu schinden, bis gegen 13.30 Uhr der Polizist Ulf M. die Boutique betrat. Die verdächtige Kundin wandte ihm den Rücken zu. Als sie bezahlt hatte, wollte sie sich an dem Beamten vorbei zum Ausgang drängen, doch der Uniformierte trat ihr in den Weg. In diesem Augenblick griff sie mit der rechten Hand in die Außentasche ihrer Jacke.
Doch den dort steckenden Revolver konnte sie nicht mehr ziehen, denn der Polizist riss ihr den Arm hoch. Trotz heftigen Widerstandes gelang es ihm und seinem herbeigeeilten Kollegen Reiner F., die Frau zu überwältigen und zu entwaffnen. Der Revolver war geladen und entsichert, und in der Umhängetasche fanden die Polizisten noch eine weitere Pistole, ebenfalls durchgeladen und entsichert.
Die Festgenommene trug Pass und Führerschein auf den Namen Rosmarie R. bei sich. Der Pass erwies sich schnell als echt, aber gestohlen gemeldet; das Foto war ausgetauscht. Beim Führerschein handelte es sich um ein passend ausgefülltes, blanko gestohlenes Dokument. Die Frau wurde durch Fotovergleich und aufgrund ihrer Fingerabdrücke als Gudrun Ensslin identifiziert.
So berichtete WELT am 8. Juni 1972 über Ensslins Festnahme
Nach der erkennungsdienstlichen Behandlung im Hamburger Polizeipräsidium wurde Ensslin eilig per Hubschrauber ins Gefängnis Essen verlegt, das die bauliche und technische Möglichkeit für eine streng gehandhabte Untersuchungshaft bot. Obwohl hier stets nur zwei Justizvollzugsbeamtinnen gleichzeitig ihre Zelle betreten durften und Ensslin außer zum allein absolvierten Hofgang ihren Haftraum nicht verlassen konnte, gelang es ihr, einen Kassiber herauszuschmuggheln – der zweiseitige, mit einer teuren elektrischen Kugelkopf-Schreibmaschine der Marke IBM in der Schriftart „Dualgotic“ getippte Brief wurde nur acht Tage später, am 15. Juni 1972, bei der Festnahme von Ulrike Meinhof in Langenhagen bei Hannover sichergestellt.
In dem Brief berichtete Gudrun Ensslin von ihrer Festnahme in Hamburg (Original-Wortlaut): „Dann i.d. Laden hab ich nur noch Scheiße im Hirn gehabt, erregt, verschwitzt etc. Sonst hätte ich ticken müssen, ich hab aber gepennt; ging auch irre schnell, mögl. weiter ne Kripovotze sofort hinter mir i. Laden, ich gepennt, sonst wäre jetzt eine Verkäuferin tot (Geisel), ich und vielleicht zwei Bullen.“
Anschließend schilderte sie Details des Transport per Hubschrauber nach Essen einschließlich einer Zwischenlandung und dem Wechsel des Helikopters. Und sie gab die Frage wieder, die der begleitende Kriminalbeamte sie während des Fluges gefragt hatte: „Wieso sind Sie eigentlich nach Hamburg?“
Der Ensslin-Kassiber
Ferner gab Ensslin in eindeutigem Ton verschlüsselte Anweisungen an Meinhof: „Befehl, mach’ die Fresse zu und bleib’ im Loch.“ Mehrere mit Codewörtern benannte Wohnungen sollten geräumt und gereinigt werden, damit die Polizei dort keine Beweismittel mehr finden könne. Dagegen müsse der Vermieter der wichtigsten konspirativen Wohnung der RAF, der Bombenwerkstatt in einem Neubau in der Inheidener Straße in Frankfurt am Main, unbedingt weiter bezahlt werden, mit immerhin 680 Mark im Monat (nach heutiger Kaufkraft etwa 2000 Euro), per Umschlag in den Briefkasten.
Weiterhin sollte Meinhof dafür sorgen, dass noch zwei Bombenanschläge in Hamburg verübt würden, „davon einmal Amerika (möglichst!) und einmal wie besprochen“. Mit „Amerika“ war mutmaßlich das US-Generalkonsulat an der Außenalster gemeint.
Wie konnte dieser Kassiber zu Meinhof gelangen? Ensslin war schon wenige Stunden nach ihrer Festnahme in Hamburg nach Essen verlegt worden. Hier hatte sie bis zum 15. Juni genau einmal auswärtigen Besuch bekommen: Ihr Verteidiger Otto Schily führte am 12. Juni 1972 ein mehr als zweistündiges, natürlich unbeaufsichtigtes Gespräch mit seiner Mandantin.
Ansonsten kannte Ensslin niemand in dem Gefängnis, saß von anderen Inhaftierten getrennt und hatte kein Geld zur Verfügung, mit dem sie etwa Justizbeamtinnen hätte bestechen können – die zudem stets zu zweit zu Ensslin kamen. Über eine Schreibmaschine verfügte sie natürlich auch nicht.
Dennoch wurden die beiden getippten Blätter schon drei Tage nach Schilys Besuch bei Ensslin im Besitz von Meinhof in Hannover sichergestellt, und die ersten Weisungen daraus waren, wie sich bald erwies, bereits umgesetzt worden. Der Weg der umfangreichen Weisungen von der Haftanstalt Essen zur untergetauchten Empfängerin hatte also nur 24 bis maximal 36 Stunden gedauert.
Die Polizei war sich sicher, dass Schily der Bote gewesen sein und zudem gewusst haben müsse, wie die meistgesuchte Frau der Bundesrepublik zu erreichen sei. Der zuständige Richter am Bundesgerichtshof sah das ähnlich und schloss den Anwalt wegen Teilnahme an den Verbrechen seiner Mandantin von der Verteidigung aus.
Schily bestritt jede Verwicklung, und in seiner Kanzlei fand sich auch keine IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine mit dem Schrifttyp „Dualgotic“. Auch sonstige Beweise für seine Verwicklung gab es nicht, etwa Fingerabdrücke. Der Rechtsanwalt, zweifellos ein brillanter Jurist, wandte sich direkt ans Bundesverfassungsgericht, beklagte eine Beschränkung seiner Berufsfreiheit und bekam Recht: Er wurde wieder zur Verteidigung von Gudrun Ensslin zugelassen.
Die Karlsruher Richter hatten rein formalistisch entschieden, weil es kein Gesetz gab, aufgrund dessen wahrscheinliche Unterstützungshandlungen von Anwälten bei Verbrechen ihrer Mandanten zur Gefahrenabwehr sanktioniert werden durften – allerdings unwillig, denn im Beschluss hieß es: „Das Bundesverfassungsgericht verkennt nicht, dass mit diesem Ergebnis ein höchst unbefriedigender Rechtszustand aufgedeckt worden ist, dessen Aufrechterhaltung sich mit dem Interesse an einer geordneten Strafrechtspflege in keiner Weise vereinbaren lässt.“
Die Karlsruher Richter forderten eine entsprechende Regelung: „Der Gesetzgeber wird daher die Voraussetzungen des Verteidigerausschlusses in naher Zukunft zu regeln haben.“ Sie kam zum 1. Januar 1975. Geholfen hat diese Regelung gegen die massive Unterstützung von inhaftierten (und mutmaßliche von untergetauchten) RAF-Terroristen durch ihre Anwälte allerdings nicht.