Gespannt blicken Politiker, Juristen und Bürger nach Karlsruhe, denn das Bundesverfassungsgericht will am Dienstag einige Entscheidungen zum Umgang der Bundesregierung mit der Corona-Pandemie und den Grundrechten verkünden. «Endlich», so denken viele, denn das Gericht war angesichts beispielloser Freiheitsbeschränkungen in der Pandemie bisher bemerkenswert still. Zugleich liegen die Infektionszahlen derzeit auf Rekordniveau – es könnte zu einer Neuauflage der «Bundesnotbremse» kommen. Dann wäre es gut zu wissen, wie weit Grundrechtseinschränkungen in der Pandemie gehen dürfen.
Gerichtspräsident Stephan Harbarth wird hierbei von der Öffentlichkeit besonders kritisch beäugt. Der 49-Jährige war Ende 2018 noch CDU-Bundestagsabgeordneter, wurde übergangslos erst Richter am Bundesverfassungsgericht und dann dessen Präsident – er wechselte also vom Gesetze-Machen direkt zum Gesetze-Kontrollieren. Zudem ist die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel seine Duzfreundin. Harbarth folgte gemeinsam mit seiner Richterkollegin Susanne Baer am 30. Juni einer Einladung Merkels zum Abendessen ins Kanzleramt und suchte auch eins der Themen aus, über die geredet wurde: «Entscheidung unter Unsicherheiten.»
Es war der letzte Geltungstag der «Bundesnotbremse», über die das Gericht nun entscheidet. Das Abendessen im Kanzleramt trug Harbarth und Baer Befangenheitsanträge eines Anwalts ein, die jedoch abgewiesen wurden, und zwar von ihrem eigenen Senat. Ein solches «Treffen zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der Bundesregierung» könne keine Begründung der Besorgnis der Befangenheit darstellen, so das Gericht. Andererseits ist ein gemütliches Beisammensein in einer solchen Zeit zumindest ungeschickt – immerhin lagen die Beschwerden gegen die «Bundesnotbremse» schon vor, und die Aufgabe des Gerichts ist es, Parlament und Regierung zu kontrollieren. Dafür muss es auch mal ungemütlich werden.
Präsident in der Kritik
Diese Mischung – das Schweigen des Gerichts, die ungute Nähe zur Politik – brachte Harbarth den Verdacht ein, der verlängerte Arm der Regierung Merkel in Karlsruhe zu sein.
Eilanträge wurden vom Gericht fast sämtlich abgewiesen. Nun werden die Entscheidungen in neun Hauptsacheverfahren bekannt gegeben. In sieben Verfahren geht es um die Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen der «Bundesnotbremse», in zwei Verfahren um die Schulschliessungen. Da das Gericht nicht mündlich verhandelt hat, werden keine Urteile verkündet, sondern einfach Beschlüsse veröffentlicht. Auch dies wurde von Medien und Juristen kritisiert – eine mündliche Verhandlung ist immer auch ein Forum zur Debatte, an der die Öffentlichkeit teilnehmen kann.
«Es muss Klarheit darüber herrschen, dass Verfassungsgerichte ihre Kontrollaufgabe nur aus einer Position der Distanz zur Politik erfüllen können», schreibt Dieter Grimm in seinem Buch «Verfassungsgerichtsbarkeit», das zum 70-jährigen Bestehen des Gerichts vor wenigen Monaten erschien. Grimm ist Staatsrechtslehrer an der Humboldt-Universität Berlin und war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. «Zu den Worten, die Sie zitieren, stehe ich weiterhin», schreibt Grimm auf Nachfrage in einer Mail an die NZZ. «Ich war allerdings nie der Meinung, dass damit die Anwesenheit von Personen, die einmal politische Ämter oder Mandate innehatten, im Verfassungsgericht unvereinbar sei.»
Auch andere kamen aus der Politik
Tatsächlich haben auch in der Vergangenheit viele Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts politische Ämter bekleidet, meist kamen sie jedoch aus der Exekutive, etwa einem Ministeramt, und nicht, wie Harbarth, bruchlos aus dem Parlament. So war gleich der erste Präsident des Gerichts, Hermann Höpker-Aschoff, zuvor preussischer Finanzminister gewesen. Er legte 1951 sein Bundestagsmandat (FDP) nieder, um Verfassungsgerichtspräsident zu werden, und warf sich sogleich in eine Schlacht mit Justizminister Thomas Dehler (FDP), um das Gericht von dessen Aufsicht zu befreien. Auch Ernst Benda, Roman Herzog und Jutta Limbach kamen aus der Politik. Befürchtungen, sie könnten aufgrund alter Loyalitäten die Verfassung nicht wirksam schützen und das Handeln der anderen Verfassungsorgane nicht wirksam kontrollieren, bewahrheiteten sich nicht.
Harbarth entstammt nicht der Staatsrechtslehrer-Szene, die sonst am Gericht stark vertreten ist, er ist Wirtschaftsanwalt. Sein sehr hohes Einkommen, das er als Abgeordneter unter «Nebeneinkünfte» angeben musste, sorgte ebenfalls für Kritik: Wie konnte er neben seinem Mandat eine Millionensumme verdienen? Bedeutet das nicht zwangsläufig, dass er das Mandat vernachlässigt? Und was, wenn er das Geld ohne angemessene Gegenleistung bekommen hat? So lauteten die Fragen. Harbarth blieb still.
Sein Vorgänger Andreas Vosskuhle nahm ihn gegen Kritik wegen des direkten Wechsels aus der Politik in Schutz. Harbarth bringe Erfahrung als versierter Rechtsanwalt, Politiker und Wissenschafter mit, sagte Vosskuhle im Frühjahr 2019 bei einer Feierstunde zur Amtseinführung in Karlsruhe. Gerade die anwaltliche und politische Perspektive würden «nicht nur dem Ersten Senat, sondern dem ganzen Gericht guttun».
Im Falle Harbarths sind dennoch Zweifel angebracht. Harbarth wurde vor drei Jahren direkt aus der Position des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union in das Verfassungsgericht als dessen Vizepräsident gewählt; die Fraktionen hatten sich zugleich darauf verständigt, ihn später zum Präsidenten zu machen. Er wurde Nachfolger von Ferdinand Kirchhof im ersten Senat, der für die Grundrechte zuständig ist. Im Sommer 2020 rückte er an die Spitze des Gerichts. Eine Feier gab es pandemiebedingt nicht; die Zeremonie wurde vor wenigen Tagen nachgeholt. Amtsvorgänger Andreas Vosskuhle gab dem «lieben Stephan» bei dieser Gelegenheit mit auf den Weg, es sei «sehr beruhigend zu wissen, dass das Gericht bei Dir in so guten Händen ist.»
Fragen der NZZ wollte der fast 50-Jährige nicht beantworten. Wer sich der Person Harbarth anzunähern versucht, ist auf das öffentlich verfügbare Material angewiesen. Wer ist dieser Mann? Auch bei näherer Betrachtung bleibt Harbarth konturlos, eine Art Mann ohne Eigenschaften. Ein Leisetreter. Ein Streber?
Heimatverbunden und migrationsskeptisch
Das erste Staatsexamen legte Harbarth in Heidelberg mit «sehr gut» als Jahrgangsbester ab – das gelingt den wenigsten. Es erfordert Intelligenz, Disziplin, Strebsamkeit, juristisches Denk- und Abstraktionsvermögen. Über Harbarths Qualitäten als Verfassungsrichter sagt es dennoch wenig aus. Dass er die Rechtsprechung des Gerichts in der ganzen Tiefe kennt, kann nicht vermutet werden – er wäre damit aber auch nicht allein, das geht auch anderen Neulingen so. Dafür sorgen dann schon die Richterkollegen. Wer von früherer Rechtsprechung abweichen will, trägt eine entsprechend hohe Argumentationslast. Wobei es eine Situation wie die Pandemie noch nicht gab.
Harbarth ist heimatverbunden. Er entstammt dem Wahlkreis Rhein-Neckar, studierte in seiner Geburtsstadt Heidelberg, und seine Wirkungsstätte in Karlsruhe liegt in der Nähe seines Wohnortes. Er ist verheiratet, katholisch, hat Kinder, und man könnte vielleicht sagen, sein Familienbild sei altmodisch. Das zeigt auch ein Blick in sein Abstimmungsverhalten im Bundestag. Er stimmte gegen die Ehe für alle.
Seit er für den Bundestag antrat, gewann er jedes Mal das Direktmandat. In der Flüchtlingskrise 2015 stimmte er für die Verschärfung des Asylrechts im ersten Asylpaket, an der Abstimmung über das Asylpaket II beteiligte er sich nicht. Er stimmte für die Bundeswehreinsätze im Ausland, etwa Somalia, Darfur, Mali, Irak, Syrien, Afghanistan, und wiederholt für deren Verlängerung, sowie für die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung.
Schon in der Politik gehörte Harbarth nicht zu den Lauten. Die Spannung ist hoch, wie das Gericht nun argumentieren wird. Die Unabhängigkeit der Justiz sei deshalb so wichtig, damit eine Regierung und ein Parlament effektiv kontrolliert werden könne und um deren Macht zu begrenzen, sagte Harbarth kürzlich. Er bezog dies allerdings auf Polen. Nun muss sich zeigen, wie es damit im eigenen Hause aussieht.