von Fabian Nicolay...
Frank-Walter Steinmeier wird von Wolodymyr Selenskyi ausdrücklich nicht eingeladen und das politische Berlin sieht das als Affront. Die Würde des höchsten Amtes im Lande muss geschützt werden. Zunächst vor den ukrainischen Einladungsmuffeln, die das Ganze recht pragmatisch sehen: In Zeiten wie diesen lädt man lieber die zuverlässigen Freunde ein, statt die halbherzig späteinsichtigen, die in der Vergangenheit nicht durch Engagement für die Sache der Ukraine aufgefallen sind und auch heute nicht.
Das hohe Amt muss aber nicht vor taktlosen Staatsmännern im Selbstverteidigungsmodus beschützt werden, die ihren Anstand notgedrungen hinter Sandsäcken deponiert haben, sondern benötigt den Schutz vor dem Amtsinhaber selbst, der ein gut ausgestattetes Portfolio an Fragwürdigkeiten und Fehlgriffen vorzuweisen hat, die weit schwerer wiegen als die Unlust des ukrainischen Präsidenten, einen ehemaligen Putin-Versteher im Außenamt zur Besichtigung von Schützengräben und Ruinen einzuladen.
Zumal der Bundespräsident die Stippvisite als Pflichttermin sieht und ohnehin nichts anderes zu tun pflegt, als steife Textbausteine aus dem Diplomatenstadl abzuliefern. An vorderster Front der deutschen Solidaritäts-Delegationen und Schönwetter-Moralisten kann der Bundespräsident auch von seinem Schloss aus Ratschläge an die Ukraine erteilen, die dort jedoch keiner braucht. Denn über Frieden und europäische Solidarität reden lässt es sich leicht, wenn man nicht von TOS-1-Raketenwerfern aus den Vorstädten in Spandau, Friedrichsfelde oder Bernau bedroht wird.
Diplomatisches Feingefühl mögen die Ukrainer zwar nicht besitzen, aber der Bundespräsident selbst lässt hinter der Fassade des Politprofis auch Zweifel an der Sorge um die Würde des Amtes aufkommen. In Erinnerung bleiben seine „Ausrutscher“, denen stets der Hautgout linkslastigen Ressentiments anhaftet, das auf das unwillige Bürgertum zielt. „Walter, der Spalter“, ist wirklich kein schöner Anwurf für einen Mann im höchsten Amt, aber als Jobbeschreibung passt es trotzdem. Eigentlich müsste er sich qua Amt allen Deutschen zuwenden und Partei ergreifen für den gesellschaftlichen Frieden. Indem er das Gemeinsame fördert, nicht das Trennende, soll das deutsche Staatsoberhaupt Hysterie, Ausgrenzung und staatliche Anmaßung verhindern. Dafür steht Frank-Walter Steinmeier definitiv nicht.
Mit ihm ist das Amt des Bundespräsidenten seiner ursprünglichen Weihe endgültig enthoben worden. Es ist in der Wirklichkeit von Parteilichkeit angekommen. Steinmeier ist der prototypische Repräsentant einer Neigung zu immer mehr Dekonstruktion repräsentativer Funktionen und staatlicher Symbole. Da passt der gestrenge Überheblichkeitsmodus, der ihm wie der Schatten seiner Partei folgt, nur zu gut.
Irren ist menschlich, aber bewusst ideologische Irrtümer zu fördern, ist nicht präsidial: Frank-Walter Steinmeier gelang es, den demokratie-, frauen- und israelfeindlichen Ajatollahs im Iran zum Revolutionsgeburtstag im Namen aller Bundesbürger zu gratulieren. Rückschlüsse auf seine Amtsauffassung lassen auch seine Begeisterung für Nord-Stream-2 zu, mit der er unsere europäischen Nachbarn düpierte und eine „deutsch-zentrische“ Interessenspolitik vertrat, die uns heute versorgungstechnisch auf die Füße fällt.
Zum Teil schien es, als habe er seinen inneren Kompass verloren, als er beispielsweise eine vom Verfassungsschutz beobachtete linksextremistische Band empfahl, die in Chemnitz auf einem Konzert „gegen Rechts“ auftrat. Das zeitgeistig getrübte Politikverständnis des Bundespräsidenten veranlasste ihn gar vor Kurzem, eine RAF-Terroristin in einer Reihe „großer Frauen der Weltgeschichte“ zu nennen. So geht Geschichtsklitterung, die peu à peu die Grenzen des Sagbaren zugunsten (extrem)linker Standpunkte verschieben soll und den gesamtgesellschaftlichen, liberalen Wertekanon ignoriert.
Für viele seiner Missgriffe hat sich der Bundespräsident zwar im Nachhinein entschuldigt, für seine missglückte, parteiische Amtsführung wird er das aber wahrscheinlich nicht tun. Sie ist ihm egal. Denn er ist, wie die meisten „großen Geister“ des Berliner Klüngels, ein geübter Darsteller gespielter Demut, die in den abgeschotteten Sphären der Hauptstadtpolitik eine entmenschlichte Steifheit und absurde Realitätsfremdheit angenommen hat.
Das kam in den zwei harten Corona-Jahren besonders deutlich zum Vorschein. Gern setzte er dabei – wie bei seinen Geburtstagsgrüßen nach Teheran – eine Mehrheit voraus, die er für sein knallrot gefärbtes Weltbild zu vereinnahmen sucht. Die vermeintliche Minderheit ist für den Bundespräsidenten dann auch schnell eine Gefahr für das Land: „Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, setzen ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, und sie gefährden uns alle. [...] Es geht um Ihre Gesundheit, und es geht um die Zukunft Ihres Landes!“ Das ist haarscharf an den „Feinden der Volksgesundheit“ vorbeiformuliert und bedient in seiner Diktion das pure Ressentiment.
Ich kann den Präsidenten der Ukraine verstehen, der Wichtigeres zu tun hat, als sich im Angesicht der Verwüstung des eigenen Landes noch Friedensfantasien und Hinhalte-Diplomatie aus dem Bellevue'schen Wunschkosmos anhören zu müssen. Er erwartet Handfestes. Lieber nähme er Waffen zur Verteidigung seines Landes in Empfang, als die kaltherzigen Worte aus dem geistigen Zirkeltraining der Kaderpolitik, die das Wort „Realität“ für ein ontologisches Phänomen hält, das im weiten Umfeld der Hauptstadt wie eine Seuche grassiert.
Ganz in der Nähe des Reichstages, an der Straße des 17. Juni, steht ein Ehrenmal mit zwei Panzern und Haubitzen der „glorreichen“ sowjetischen Armee, die uns – wie die Alliierten – von Nazideutschland befreit hat. Dies ist einer der gültigen Erzählstränge der deutschen Geschichte nach 1945, die sich in den Ehrenmalen manifestiert hat. Es gibt aber noch andere, private Erzählstränge, die nicht in den Schulbüchern stehen und in den verborgenen Biografien von Frauen und Kindern im russisch besetzten Teil Deutschlands tiefe Spuren hinterlassen haben. Meine Großmutter, meine Tanten und meine Mutter haben solches durchleben müssen. Und ich denke an ihre Schicksale, wenn ich heute die Bilder und Berichte aus der Ukraine sehe. Da reimt sich so manches in der Geschichte. Das ist die ontologische, die existenz-philosophische Ebene, auf der Deutschland und die Ukraine verbunden sind.
Deshalb kann ich nachvollziehen, warum Wolodymyr Selenskyj keinen Smalltalk mit Frank-Walter Steinmeier halten möchte. Warum der deutsche Bundespräsident in der Ukraine nicht vonnöten ist, wird mir wieder ganz besonders am heutigen Tag der Selbstaufopferung für das Menschsein, dem Karfreitag, bewusst.