Der einstmals starke Mann hinter Kraft ist wegen einer Reihe von Problemen in seinem Zuständigkeitsbereich zur Belastung geworden, sieht sich immer wieder mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Am schwersten wiegen neben dem Fall Amri die behördlichen Fehler in der Silvesternacht in Köln 2015/16, als hundertfache Übergriffe auf Frauen unter den Augen der überforderten Polizei geschehen konnten.
Doch Erleichterung kann sich nach dem Gutachten für Jäger und seine Chefin mitnichten einstellen, denn ausgerechnet darin ist eine bemerkenswerte Aussage enthalten. Die Behauptung von NRW-Innenminister Ralf Jäger, die Sicherheitsbehörden des Landes seien bei Anis Amri bis an die „Grenze des Rechtsstaates“ gegangen, scheint nicht mehr haltbar.
Jäger hatte bereits am 5. Januar begründet, warum man in der Tat Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes nicht genutzt und ergo keine Abschiebehaft von Amri angestrengt hatte, obwohl dessen Gefährlichkeit und seine Absicht, einen Terroranschlag zu verüben, den Sicherheitsbehörden nach umfangreicher Observierung früh bekannt gewesen waren. Wörtlich sagte Jäger damals: „Die rechtliche Hürde ist übrigens so hoch, dass dieser Paragraf 58a noch nie in der Bundesrepublik Deutschland zur Anwendung kommen konnte, weil eben die Hürde so hoch ist.“
Dies sei auch die Auffassung im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) gewesen, wo sich Vertreter der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern über islamistische Anschlagsgefahren austauschen und die Person Anis Amri mehrfach Thema gewesen war.
Auf Seite 73 des Gutachtens von Strafrechtsprofessor Kretschmer wird jedoch eine andere Einschätzung deutlich: „Bei voller Kenntnis und Verwertbarkeit aller gesammelten Verdachtsmomente hätte im Frühjahr 2016 – zumal angesichts der seinerzeit festen Verwurzelung Amris in der extremistischen Szene – eine Abschiebungsanordnung nach Paragraf 58a Aufenthaltsgesetz durchaus erfolgreich sein können.“
Generalsbundesanwalt macht deutlich: Es gab nicht einmal eine Aktenfreigabe
Nun schränkt der Gutachter zwar ein, wesentliche Verdachtsmomente hätten „mangels Freigabe“ des Generalbundesanwalts in Karlsruhe nicht im Abschiebehaftantrag verwertet werden können. Aber dem widersprach am vergangenen Freitag Generalbundesanwalt Peter Frank im Untersuchungsausschuss des Landtags. Eine förmliche Anfrage zur Aktenfreigabe an seine Behörde sei aus Nordrhein-Westfalen schlicht „nicht gestellt“ worden. Es hätte ansonsten eine „wohlwollende Prüfung“ dieser Anfrage gegeben, und man würde sich einer Aktenfreigabe „nicht verschließen“. Damit hat der Amri-Untersuchungsausschuss des Landtags eine durchaus belastende Erkenntnis zutage gefördert. Jägers Verteidigungslinie bricht zusehends ein.
Dazu trägt ein weiterer Umstand bei: Ausgerechnet das Landeskriminalamt hatte bereits im März 2016, also sechs Monate nachdem Amri unter falschem Namen in Deutschland eingereist war, empfohlen, den Paragrafen 58a zu nutzen. In einer mehrseitigen Vorlage an die sogenannte Sicherheitskonferenz in Jägers Ministerium regte das LKA eine Abschiebehaft an, „da nach den bislang vorliegenden belastbaren Erkenntnissen zu prognostizieren ist, dass durch Amri eine terroristische Gefahr in Form eines (Selbstmord-) Anschlags vorliegt“. Erwähnt hatten diesen Vorgang, über den die „Bild am Sonntag“ vor eineinhalb Wochen berichtete, weder der Ressortchef noch seine zuständigen Mitarbeiter von sich aus.
Der zuständige Abteilungsleiter im Ministerium, Burkhard Schnieder, räumte schließlich ein, dass er dieser Anregung der Ermittler nicht gefolgt sei und keinen Haftantrag vor Gericht gestellt habe. Schnieder bemühte sich im Ausschuss, die Erkenntnisse zu relativieren. Und er stellte sogar infrage, ob diese überhaupt verwertbar gewesen seien. Dabei war das Landeskriminalamt über Monate hinweg ganz nah an dem Verdächtigen dran, überwachte ihn telefonisch, setzte einen V-Mann ein – konnte den Gefährder wohl am besten einschätzen. Aufmerksam auf Amri war das LKA geworden, weil es im Auftrag des Generalbundesanwalts die Ermittlungen gegen das islamistische Netzwerk des Dschihadisten-Anwerbers Abu Walaa führte.
Fehleinschätzung bei der Frage, wann Tunesien Papiere liefern würde
Obendrein wurde eine äußerst günstige Gelegenheit verpasst, eine längere Haft Amris bis zur Abschiebung nach Tunesien anzustreben: Ende Juli 2016 wurde der Islamist bei einer Personenkontrolle in Friedrichshafen verhaftet, weil er mit gefälschten Papieren in die Schweiz reisen wollte. Zudem war sein Asylantrag bereits Ende Mai abgelehnt worden, er galt also als ausreisepflichtig. Folglich wurde Amri zunächst einmal festgesetzt.
Nun wurde die Ausländerbehörde des Kreises Kleve eingeschaltet, sie war seit der Zuweisung von Amri nach Emmerich im August 2015 ausländerrechtlich durchgehend für den Mann zuständig. Dort richtete man nach der Verhaftung Amris an Jägers Haus die Frage, ob Paragraf 58a infrage komme. Doch das Ministerium verneinte, weil man weiter keine Chancen sehe, den Mann in absehbarer Zeit abzuschieben. Es fehlten Passersatzpapiere aus Tunesien. Amri kam schließlich frei.
Dass auch diese Argumentation des Ministeriums bezweifelt werden kann, meinte vorige Woche dann Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im Untersuchungsausschuss. Der CDU-Politiker verwies auf einen Zeitpunkt Ende Oktober 2016, als tunesische Behörden die Identität Amris bestätigt hatten. Ab da habe man von einer zügigen Bearbeitung der Passersatzpapiere in Tunesien ausgehen können. De Maizière: „Man hätte spätestens ab Oktober mit guten Gründen einen Antrag auf Sicherungshaft stellen können. Es wurde aber nicht einmal versucht.“
Längst erfasst der Fall Amri auch den Geschäftsbereich von Ministerpräsidentin Kraft. Ein internes Dokument vermittelt den Eindruck, dass ihre Staatskanzlei versuchte, Einfluss auf die Chronologie der Behördentätigkeit im Fall Amri zu nehmen. Die „Bild am Sonntag“ zitierte aus der Mail einer Abteilungsleiterin. Demnach wolle man das NRW-Innenministerium bitten, „die Internetinfo zu optimieren, z. B. Chronologie des Geschehens unter besonderer Berücksichtigung auch der Verfahrensschritte, die außerhalb NRW stattfanden“.
Zusätzlichen Streit verursacht nun der geplante Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses, da die Aufklärung absehbar bis zum Ende der Legislaturperiode in wenigen Wochen nicht beendet werden kann. CDU und FDP lehnen den Entwurf ab, den die rot-grünen Regierungsfraktionen unterstützen. Nach Ansicht der Opposition werden darin Zeugenaussagen verkürzt und wichtige Aktenbestandteile ausgeklammert. „Durch Auslassungen und Hervorhebungen soll der Öffentlichkeit vorgegaukelt werden, der Ausschuss bestätige die bisherige Verteidigung der Landesregierung“, sagte CDU-Obmann Daniel Sieveke. Sein FDP-Kollege Joachim Stamp reichte Klage gegen den Zwischenbericht ein. Am Freitagabend soll nun Minsiterpräsidentin Hannelore Kraft vor dem Ausschuss aussagen.