Die große Sorge ist, dass die Verwüstungen flächendeckend passieren könnten. Linke sind da ziemlich erfinderisch. So werden am 1. Mai Autonome aus ganz Berlin in den Grunewald fahren. Die Aktivisten wollen die Villenbesitzer über die Vorteile von Enteignungen aufklären. Ein klare Drohung, es fehlet nur noch der Strick...
Frauke hat rote Haare, wenn sie in der Öffentlichkeit auftritt. In ihrem privaten Leben hat sie eine andere Haarfarbe, sie möchte diese nicht preisgeben. Frauke kommt aus Süddeutschland, eine genauere Angabe will sie nicht machen. Zu ihrem beruflichen Hintergrund möchte sie auch nichts sagen. Natürlich heißt die junge, energische Frau auch nicht „Frauke Geldher“, wie ihre E-Mail-Adresse angibt. Frauke möchte unerkannt bleiben, denn sie hat einen gefährlichen Nebenberuf. Sie ist Aktivistin der autonomen Szene in Berlin. Frauke gehört nicht zur Hausbesetzer-Szene. Sie fühlt sich für die Hausbesitzer zuständig. Jedes Jahr am 1. Mai tragen Frauke und ihre Kollegen Renata, Michael und Hans die Revolution dorthin, wo sie besonders wehtut: Zu den Reichen im Grunewald, dem traditionsreichen Berliner Villenviertel. Ihre Organisation nennen sie „Quartiermanagement (QM) Grunewald“.
Die Aktivisten berufen sich auf eine Arbeitergeschichte aus dem Jahr 1931: „Perlemann geht in den Grunewald“, heißt die Erzählung von Kurt Kläber, in der der Arbeiter Perlemann mit einem Freund aus dem Wedding in den Grunewald fährt, um sich die Häuser der Reichen einmal anzusehen. Nachdem Perlemann einem Villenbesitzer frech angekündigt hat, dass sein Haus bald „sozialisiert“ werde und dieser für sich und seine Kinder schon mal eine neue Bleibe werde suchen müssen, werden die Arbeiter von der Polizei verjagt.
Die Angst der Reichen vor den Entrechteten ist auch heute wieder aktuell. Im Grunewald kann man dies an den immer höheren Mauern, der Videoüberwachung und den polizeiähnlichen Sicherheitsdiensten erkennen. Mit dieser Angst spielen die Aktivisten bewusst: So heißt es im Aufruf zur 1.-Mai-Aktion in diesem Jahr doppeldeutig: „Es wird Zeit, dass die Grunewalder:innen die Umverteilung ihres Vermögens auf die Kette kriegen… Deshalb lädt das QM Grunewald dieses Jahr Berlin ein, den Grunewald zu besuchen, die Bewohner:innen abzuholen und gemeinsam in eine strahlende Zukunft für alle zu fahren!“ Das klingt martialisch, ist aber nicht so gemeint. Natürlich wolle man niemanden tatsächlich abholen und wegschaffen, sagen die Aktivisten. Man sei strikt gewaltlos und lege darauf auch Wert. Mit „abholen“ sei gemeint, dass die Reichen erkennen müssten, dass auch sie einen Beitrag zu gerechteren Verhältnissen leisten müssten. Mit der „Kette“ ist die Fahrrad-Sternfahrt gemeint, mit der in diesem Jahr Tausende Demonstranten in den Grunewald gelotst werden sollen. Frauke hat keinen Zweifel, dass viele kommen werden. Sie sagt: „Die Wut ist schon groß!“
Frauke nennt sich Quartiermanagerin – genau wie jene Sozialarbeiter, die in Brennpunktvierteln arbeiten. Diese Streetworker sorgen dafür, dass die Bewohner eines Quartiers sich ins soziale Leben eingliedern. Sie beobachten das Leben in einem Kiez und versuchen, soziale Spannungen abzubauen und extreme Entwicklungen zu verhindern. Frauke wendet dieses Konzept im Grunewald an, einem Bezirk, von dem man nicht denken würde, dass er ein Problembezirk ist. Die Aktivisten sehen das anders: Wenn die Reichen nicht sozial denken, wird das ein Problem für die Gesellschaft. Auch der extreme Reichtum ist aus ihrer Sicht eine Form des Extremismus. Als kürzlich bekannt wurde, dass sich der Gesundheitsminister eine Villa für vier Millionen Euro in Berlin gekauft hat, wurden die autonomen Streetworker aktiv. Renata erzählt: „Wir haben eine Gefährderansprache an Jens Spahn verschickt. Er hat nicht geantwortet. Und er wäre ohnehin nicht in unsere Zuständigkeit gefallen: Er wohnt nämlich in Dahlem und nicht im Grunewald.“ Als Gefährder bezeichnet die Kriminologie jemanden, der für die Gesellschaft gefährlich werden könnte. Die Aktivisten übernehmen den Jargon der Behörden.
Frauke und ihre Kollegen haben sich selbst ermächtigt, um im Grunewald nach dem Rechten zu sehen. Sie sind autonome Quartiermanager, ehrenamtlich, wie Frauke betont: „Es wird viel davon geredet, welche Probleme wir in den sozialen Brennpunkten haben. Wir müssen aber auch davon reden, wie die Reichen dazu gebracht werden, zum sozialen Leben der Gesellschaft beizutragen.“ Über das Leben der Reichen werde der Schleier der Diskretion gebreitet. Das sei falsch: „Daher haben wir gesagt: Wir kümmern uns um die Reichen im Grunewald. Im Interesse des sozialen Zusammenhalts brauchen auch sie Begleitung und Betreuung. Wir wollen mit den Villenbesitzern ins Gespräch kommen. Wir sind nicht ihre Feinde.“
Der Grunewald sei Social Distancing mit Ansage, sagen die Aktivisten. Schon vor hundert Jahren sei das Viertel als Millionärsviertel geplant gewesen. Die Millionäre sind naturgemäß ein Problem für alle Linken und Linksextremen. Frauke hat keine feste ideologische Position, sie will sich nicht einordnen lassen. Trotzki, Marx, Mao – die sind für sie nicht wichtig. Piketty hat sie gelesen und findet ihn gut. Am ehesten sieht sie sich als Anarchistin: „Ich möchte grundsätzlich nicht, dass Menschen über andere Menschen Herrschaft ausüben. Ich habe die Utopie, dass wir in einer Welt ohne Zwang leben.“
Die Ungerechtigkeit, wie sie die Gesellschaft heute prägt, ist für sie nicht hinnehmbar. Im Jahr 2018 habe die Explosion der Mietpriese bei ihr „das Fass zum Überlaufen“ gebracht: Das QM Grunewald wurde gegründet. Die Reichen sollten dazu gebracht werden, die Probleme der Stadt auch als ihre Probleme zu begreifen: „Hunderttausende können sich die Mieten nicht mehr leisten. Nach dem Ende der Mitpreisbremse wird es für viele noch schwerer. In der Pandemie sind viele auf Kurzarbeit. Außerdem trifft sie der Lockdown in den kleinen Wohnungen viel härter als die Reichen in den Villen“, sagt Frauke. Das könne den Wohlhabenden in der Stadt nicht egal sein, sagen Frauke und ihre Mitstreiter.
Wie alles in Berlin hat auch der Grunewald eine wechselvolle Geschichte: Für viele Juden ist der Bahnhof Grunewald einer der Schreckensorte der Shoa. Von hier gingen die Transporte in die Vernichtungslager in den Osten. So gut wie alle vormals jüdischen Wohnungen und Häuser wurden von nationalsozialistischen Bonzen geraubt und übernommen – oft inklusive Einrichtung und Personal. Nach Kriegsende, Frontstadtdasein und Mauerfall ist der Grunewald in den vergangenen zwanzig Jahren in eine verschlafene Bedeutungslosigkeit verfallen. Im Herzen des Villenviertels gibt es Straßen, in denen die Uhren stehengeblieben zu sein scheinen, etwa jene, die nach „Gustav Freiherr von Schleinitz, Preußischer Oberförster, 1820-1888“ benannt ist. In vielen Villen leben mehrere Familien. Der Charakter war bisher wenig mondän, eher dörflich.
Doch es sind Veränderungen zu beobachten: An vielen Stellen entstehen Immobilienprojekte, alte Strukturen werden zerstört, Grünflächen verschwinden. Oligarchen aus vielen Ländern kaufen alte Häuser. Die Preise steigen rasant: „Der Grunewald wurde von der kapitalextremistischen Szene unterwandert“, sagte Frauke: „Das merken wir auch, wenn wir dort demonstrieren. Uns wurden Schläge angedroht, die Luft aus den Fahrradreifen gelassen. Männer, sie aussahen wie Manager, haben uns angedroht, dass sie uns die Fresse polieren.“
Frauke glaubt, dass es im Grunewald eine „Super-Gentrifizierung“ gibt: „Die Millionäre werden von den Milliardären verdrängt. Wir hören von Villenbesitzern, die mit uns reden, dass auch ihnen die Entwicklung Sorge macht.“ Die Erfahrung, aus dem eigenen Kiez verdrängt zu werden, müsse die Villenbesitzer eigentlich zu Verbündeten all jener Mieter machen, die sich heute in vielen Bezirken das Wohnen nicht mehr leisten können. Frauke: „Wir wollen niemandem aus seiner Villa vertreiben. Wir wollen die Villenbesitzer für unseren Kampf gegen die großen Immobilienspekulanten gewinnen.“ Deren Enteignung sei das Ziel. Der Wohnraum müsse vergemeinschaftet werden. Anders sei die Wohnungsnot in der Stadt nicht zu beenden. Der Druck müsse erhöht werden. Auch ein Generalstreik sei denkbar, sagt Michael, der für die Logistik der Demonstration zuständig ist: „Die Gewerkschaften streiken heute zu wenig. Sie müssen kämpferischer werden.“
Vor der Pandemie zogen die Demonstranten am 1. Mai zum Johannaplatz. Im Jahr 2019 waren es bereits 7.000 Menschen, die in den Grunewald kamen. Das hat Eindruck gemacht. Eine Anwohnerin kann sich sofort erinnern: „Ich habe das damals auf Instagram gepostet. Das waren sehr freundliche Leute. Ich habe mich lange mit ihnen unterhalten. Sie wollten, dass ich etwas unterschreibe. Das habe ich nicht gemacht. Ich bin nicht agitatorisch unterwegs.“ Die Demonstration habe sie nicht als bedrohlich erlebt. Den massiven Polizeiaufmarsch hielt sie für unverhältnismäßig. Eine andere Anwohnerin lebt in einem Seniorenheim des kommunalen Wohnungsunternehmen GEWOBAG. Sie schimpft über die Zustände dort, fühlt sich von den Verwaltern übervorteilt. Sie kennt viele der Villenbesitzer von ihren langen Spaziergängen mit ihrem Mops Leo: „Die meisten sind sehr umgänglich und freundlich.“ Auch sie beobachtet, dass sich der Kiez verändert. Die Grundidee der Aktivisten findet sie gut: „In Berlin herrscht großer Egoismus. Viele denken: Solange ich nicht selbst betroffen bin, mache ich nichts. Deswegen werden so viele ausgenutzt.“
In diesem Jahr wird die Schlusskundgebung voraussichtlich am Hagen-Platz stattfinden. In der Nähe des Platzes steht die Villa von Walter Rathenau. Der jüdische Politiker – Außenminister in der Weimarer Republik und Erbe des legendären AEG-Konzerns – wurde im Juni 1922 von Rechtsradikalen unweit seines Hauses erschossen. Sein Schicksal, so sieht es Frauke, soll den Villenbesitzern im Grunewald eine Warnung sein: Wenn die sozialen Verhältnisse außer Kontrolle geraten, ist niemand sicher: „Man muss nicht links sein, um von den Rechten ermordet zu werden.“