Als Uwe Runkel die Stellenausschreibung für den Posten eines Schulleiters in Berlin sah, dachte er: „Das ist es.“ Er bekam den Job und zog von Frankfurt am Main in die Bundeshauptstadt.
Neun Jahre ist das nun her. Seine Bilanz kann sich sehen lassen. Runkel, 51, fusionierte drei Schulen zu einer, setzte die Vorgaben der großen Bildungsreform erfolgreich um, die das Nebeneinander von Haupt- und Realschule beendete, und rief diverse Projekte gegen Mobbing, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung von Schülern ins Leben. Eltern loben ihn.
Aber gerade fühlt es sich völlig anders an: für ihn, seine Mitarbeiter, auch für Schüler und deren Eltern. Fast ein Jahrzehnt Aufbauarbeit zählen nun nichts mehr, sind wie ausgelöscht. Runkel und seine Friedenauer Gemeinschaftsschule stehen am Pranger, nachdem ein 14 Jahre alter jüdischer Junge von Mitschülern mit türkischem und arabischen Hintergrund gedemütigt worden war.
Hassmails erklären Schule zum „Drecksort“
Der Vorwurf an Runkel und seine Kollegen lautet, nicht früh und entschlossen genug gegen antijüdische Tendenzen vorgegangen zu sein. Er wiegt umso schwerer, da die Einrichtung, an der Kinder und Jugendliche aus 30 Nationen unterrichtet werden, bei der Aktion „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ mitmacht. Die Kritik geht ans Selbstverständnis der Lehrer, die glaubten, stets ihr Bestes gegeben zu haben. Nun mussten sie erleben, dass ein jüdischer Junge
aus Protest ihre Schule verlässt, für die er sich vorher ausdrücklich entschieden hatte.
„Es gab viele Gespräche mit ihm und seinen Eltern. Er wollte gerne zu uns“, sagt Runkel.
Der Schulleiter ist ein ziemlich kleiner, freundlicher und höflicher Mann mit wachen Augen. Runkel sagt: „Was richtig wehtut, ist, dass ein innovativer Schulort plötzlich in Hassmails zum Drecksort erklärt wird.“ Runkel gesteht offen: „Man zweifelt an sich selbst und fühlt sich ohnmächtig, weil man keine Chance hat, das schiefe Bild zu korrigieren.“
Alles begann mit „Hey Du Engländer“
Als Beispiel für eine „verzerrte Darstellung“ nennt der gebürtige Dortmunder, dass in Medien von „75 Prozent Muslim-Anteil“ an der Schule die Rede gewesen sei. „Das ist völliger Quatsch.“ Für drei Viertel der Jungen und Mädchen der Sekundarschule sei Deutsch aber nicht die Muttersprache.
Das gilt auch für den 14-Jährigen, dessen Eltern mit Aussagen
in der Zeitung „The Jewish Chronicle“ die Empörungswelle auslösten. Der Junge kam in Großbritannien zur Welt, redet daheim Englisch und spricht Deutsch mit Akzent.
Mit dem Ausruf „Hey, du Engländer“ begann am 10. März die Attacke gegen ihn. Erst nahm einer der Rabauken den Jungen in den Schwitzkasten, danach wurde das Opfer mit Plastikteilen aus einer Spielzeugpistole beschossen.
Nicht befreundet, „weil du Jude bist“
Bereits im November 2016 hatte es einen antisemitischen Vorfall an der Schule gegeben. Ein Junge aus einer türkischen Familie, die kurz zuvor aus Aschaffenburg nach Berlin gezogen war, soll zu dem 14-Jährigen gesagt haben: „Ich kann nicht mit dir befreundet sein, weil du Jude bist.
Juden sind alle Mörder.“ Runkel bestätigt lediglich Teil eins der Aussage. Dass der Satz „Juden sind alle Mörder“ gefallen sei, wisse er nicht. „Ich war ja nicht dabei.“
Schon damals beschwerten sich die Eltern des Opfers. Runkel sagt, als Konsequenz seien die Großeltern des jüdischen Schülers – zwei Zeitzeugen des Holocaust – zu einem Vortrag in die Klasse ihres Enkels eingeladen worden. Auch habe die Schulsozialarbeit Kontakt zur Initiative Salaam-Schalom aufgenommen. Sie tritt für ein tolerantes Miteinander von Muslimen, Christen, Juden und Atheisten ein. Vertreter des Netzwerks „Violence Prevention“, das bundesweit eine bedeutende Rolle beim vorbeugenden Kampf gegen Islamismus spielt, hätten Anfang des Jahres Vorträge gehalten.
Allerdings beharrte der Schulleiter darauf, alle Veranstaltungen in bestehende Projekte gegen Rassismus und Intoleranz einzubinden. „Wir können nicht sofort in alle Klassen jemanden reinschicken, dann verpufft es“, begründet er seine Position.
Mehr Geld und Personal statt Vorverurteilung
Das interpretierten die Eltern des 14-Jährigen offenkundig als Zögern und Aussitzen. Da der türkische Junge und seine Familie obendrein wieder nach Bayern zurückzogen, hielt Runkel den konkreten Fall für ausgestanden. Es habe damals viele Gespräche mit den Eltern des jüdischen Schülers und des Aschaffenburgers gegeben. „Ich bin sicher, wir hätten das geklärt, dass die zwei Jungen miteinander klar gekommen wären.“
Im Nachhinein ist auch Runkel schlauer, er hätte die Antidiskriminierungsstelle des Senats einschalten sollen, sagt er. Anderseits: „Wir können ganz viel tun und trotzdem erreichen wir nicht jeden. Wir können nicht die gesellschaftlichen Probleme aus der Schule verbannen und ausradieren.“
Eltern, deren Kinder in die Friedenauer Schule gehen, sehen das genauso. In einem
Leserbrief an den Berliner „Tagesspiegel“ bezweifelten sie, dass eine Schule mit Jungen und Mädchen „aus vielen Nationen“ überhaupt vor „religiös motivierten Auseinandersetzungen“ gefeit sei. „Die Lösung liegt nicht darin, dies anhand eines tragischen Vorfalls zu bemessen und den Ruf einer engagierten Schule nachhaltig zu schädigen.“ Vielmehr müsse die Einrichtung in ihrer Arbeit unterstützt werden, etwa durch mehr Geld und Personal sowie „zu guter Letzt durch einen Journalismus, der nicht voreilig verurteilt“.
Shitstorm am eigenen Leibe erlebt
Über Shitstorms mit menschenverachtenden Beschimpfungen und fiesen Drohungen hatte Runkel schon viel gelesen und gehört. So etwas aber am eigenen Leib zu erfahren, ist für ihn und seine Kollegen eine neue Erfahrung.
Zur Verärgerung kommt ein hohes Maß an Verunsicherung. Eine Zeitung habe über die Drohung eines Amoklaufs berichtet, „die ich nicht ernst genommen habe, aber selbstverständlich auch nicht ignorieren konnte, weshalb ich die Polizei informiert habe“. Schulpsychologen seien drei Tage hintereinander im Einsatz gewesen. „Alle hatten Angst zu kommen. Die Schule war fast leer.“ Runkel hat nun den banalen Wunsch, in den „normalen Schulalltag“ zurückzukehren.
Der Nordrhein-Westfale macht keinen Hehl daraus, wie sehr ihm die verbalen Angriffe aufs Gemüt schlagen. „Ich fühle mich nicht gut derzeit.“ Sein Trost: „Wir erfahren unglaublich viel Wertschätzung, was wir ein Jahrzehnt vorher getan haben.“
Solidarität nach einem Trommelfeuer der Kritik
Dass Bildungssenatorin Scheeres die Schule am Donnerstag im Landesparlament gelobt hat, „tat mir und uns sehr gut“. Das Trommelfeuer an Kritik hat zu einem Solidarisierungseffekt geführt. Lehrer, Eltern und Schüler ziehen an einem Strang, um dem Image antisemitischer Einstellungen zu begegnen, aber vor allem auch, Judenhass zu bekämpfen. Prävention und Aufklärungsarbeit werde verstärkt. „Da kommt viel Arbeit auf uns zu. Aber wir müssen nach vorne blicken und überlegen, wie wir noch mehr tun können, als wir schon tun.“
In diesen Worten zeigt sich die Zwickmühle, in der Runkel steckt. Denn nicht nur die Eltern des gemobbten jüdischen Schülers, sondern Juden in ganz Deutschland fragen sich: Warum erst jetzt? Und reicht das, was getan wird?
Der Schulleiter verweist darauf, dass die Eltern von Anfang an gesagt hätten, ihr Sohn gehe sehr offen mit seinem Glauben um. Er, Runkel, habe daraufhin mehrfach ehrlich eingestanden: „Wir haben damit keine Erfahrung.“
Pubertäts-Verhalten oder tiefer Antisemitismus?
Bleibt also die Frage: Sind die Angriffe das typische, unreflektierte Verhalten pubertierender Jugendlicher gewesen oder steckt dahinter verwurzelter
Antisemitismus? Runkel überlegt länger, ehe er die „sehr gefährliche Frage“ beantwortet. Schließlich meint er: „Es ist sehr gut möglich, dass Antisemitismus das Motiv ist. Aber wir können nicht in die Köpfe dieser Schüler schauen.“ Da den mutmaßlichen Übeltätern der Rausschmiss aus der Schule droht, lehnt Runkel zum jetzigen Zeitpunkt ein apodiktisches Urteil über die Beiden ab. „Die Polizei ermittelt noch.“
Runkels Kritiker werden diese Haltung als Herunterspielen interpretieren, was allerdings kurz greift, vielleicht zu kurz. Bleiben die zwei Migrantensöhne an der Schule, will und muss Runkel versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
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Im Anschluss an diesen Bericht hat uns eine Replik der Mutter des betroffenen Jungen erreicht, die anonym bleiben möchte. Lesen Sie hier, was sie zu den Aussagen des Schulleiters sagt:
Die in dem Artikel wiedergegebenen Aussagen des Schulleiters stellen die Ereignisse dermaßen falsch dar, dass ich mich dazu gezwungen sehe, dazu Stellung zu nehmen. Viele Aussagen sind falsch. Andere verharmlosen und verkürzen. Und sehr viele wichtige Fakten über das Leiden meines Sohnes sind gar nicht erwähnt, werden verschwiegen.
Im Artikel (wie auch in etlichen anderen Berichten anderer Medien) wird von zwei isolierten Einzelfällen ausgegangen, nämlich den Beleidigungen meines Sohnes im Dezember 2016 sowie einem körperlichen Angriff im März 2017. Das verfälscht grundsätzlich die Tatsache, dass es sich hier um dauerhafte, sich fast täglich wiederholende verbale Beleidigungen und körperliche Angriffe handelte.
Dadurch erhält der Leser ein völlig falsches Bild davon, was mein Sohn an der Schule über mehrere Monate durchgemacht hat und erfährt nicht, wie die Schulleitung es abgelehnt hat, ihm von Anfang an zu helfen, bis es zu spät war und wir ihn aus Angst vor weiteren körperlichen Angriffen von der Schule abmelden mussten.
Außerdem stellt sich der Schulleiter an vielen Stellen selbst als Opfer dar, was uns erschüttert und verletzt. Denn er zieht sich dadurch aus der Verantwortung heraus und lenkt eindeutig vom eigentlichen Problem ab, nämlich, dass sich an dieser Schule eine Mobbing-Kultur ausbreiten konnte, ohne dass die Schulleitung – trotz sehr vieler Warnungen und Bitten unsererseits – dem wirkungsvoll entgegengetreten ist.
In dem Beitrag steht:
„...Ob dahinter pubertierendes Gehabe oder ein tiefer Hass steckt, kann der Schulleiter nicht sagen...“
Alle Fakten belegen, dass das Mobbing von Anfang an antisemitische und rassistische Ursachen hatte. Es gibt absolut keinen Grund, daran zu zweifeln. Herr Runkel weiß das ganz genau.
„...Aber gerade fühlt es sich völlig anders an: für ihn, seine Mitarbeiter, auch für Schüler und deren Eltern. Fast ein Jahrzehnt Aufbauarbeit zählen nun nichts mehr, sind wie ausgelöscht...“
Der Schulleiter suggeriert damit, dass nicht unser Sohn, sondern alle anderen Opfer sind.
„...Runkel und seine Friedenauer Gemeinschaftsschule stehen am Pranger...“
Der Schulleiter wurde nicht an den Pranger gestellt, sondern seine Handlungsweise und Entscheidungen wurden zu Recht kritisiert. Außerdem wurden die Beschönigungen des Schulleiters in den allermeisten Artikeln bisher kritiklos übernommen; das heißt, die Sache wurde eigentlich harmloser in den Medien dargestellt, als sie tatsächlich war.
„...nachdem ein 14 Jahre alter jüdischer Junge von Mitschülern mit türkischem und arabischen Hintergrund gedemütigt worden war...“
Das Wort „gedemütigt“ wirkt verharmlosend. Unser Sohn wurde monatelang verbal und körperlich angegriffen.
„...Die Kritik geht ans Selbstverständnis der Lehrer, die glaubten, stets ihr Bestes gegeben zu haben...“
Hier werden die Lehrer absurderweise als Opfer unseres gemobbten Sohnes dargestellt.
„...dass ein jüdischer Junge aus Protest ihre Schule verlässt...“
Unser Sohn hat die Schule nicht aus Protest verlassen, sondern weil die Schule seine Sicherheit nicht gewährleisten konnte. Eine Lehrerin hatte mit Tränen in den Augen gesagt, dass sie verstehen könnte, wenn wir ihn von der Schule nähmen, da die Schulleitung nicht bereit sei, für seine Sicherheit zu sorgen.
„...Es gab viele Gespräche mit ihm und seinen Eltern...“
Es gab ein einziges Gespräch mit der Schulleitung, das nach dem letzten Vorfall im März stattgefunden hat.
„...Runkel sagt: „Was richtig wehtut, ist, dass ein innovativer Schulort plötzlich in Hassmails zum Drecksort erklärt wird...“
Das ist eine völlig egozentrische Aussage des Schulleiters. Was richtig wehtut ist hingegegn, dass an seiner Schule antisemitische Gewalt herrscht, Hass auf Kurden, Schwarz-Afrikaner und Schwule und eine allgemeine Mobbing-Atmosphäre. Das aber erwähnt er nicht.
„...fühlt sich ohnmächtig, weil man keine Chance hat, das schiefe Bild zu korrigieren...“
Das Bild ist nicht schief, sondern die Situation an der Schule ist außer Kontrolle geraten, weil die Schulleitung einfach nicht von Anfang an genug getan hat.
„...Alles begann mit „Hey Du Engländer...“
Das stimmt einfach faktisch nicht.
„...dessen Eltern mit Aussagen in der Zeitung „The Jewish Chronicle“ die Empörungswelle auslösten...“
Die Wortwahl deutet darauf hin, dass die Juden schuld sind. „Empörungswelle“ ist verharmlosend – nicht die Sache, sondern die Berichterstattung ist das Problem.
„...Der Junge kam in Großbritannien zur Welt, redet daheim Englisch und spricht Deutsch mit Akzent...“
Stellt unseren Sohn als Außenseiter und Ausländer da. Tatsächlich ist er Deutscher und zweisprachig. Er lebt in Deutschland seitdem er vier Monate alt ist.
„...Mit dem Ausruf „Hey, du Engländer“ begann am 10. März die Attacke gegen ihn...“
Faktisch völlig falsch. Wie Herr Runkel genau weiß, fing das antisemitische Mobbing in der ersten Schulwoche unseres Sohnes am 2. Dezember 2016 an und hörte nicht auf. Der Vorfall am 10. März war lediglich der letzte.
„...Erst nahm einer der Rabauken den Jungen in den Schwitzkasten, danach wurde das Opfer mit Plastikteilen aus einer Spielzeugpistole beschossen...“
Hier wird der Vorfall völlig verharmlosend dargestellt. Mein Sohn wurde gewürgt, bis er Todesangst bekam vor seinen lachenden Schulkameraden. Danach wurde er mit einer echt aussehenden Replikapistole bedroht.
„...Runkel bestätigt lediglich Teil eins der Aussage. Dass der Satz ‚Juden sind alle Mörder’ gefallen sei, wisse er nicht. ‚Ich war ja nicht dabei’...“
Herr Runkel zieht die Aussage meines Sohnes ohne Grund in Zweifel und relativiert dadurch die Schwere der Bedeutung des Satzes.
„...Schon damals beschwerten sich die Eltern des Opfers...“
Nein. Wir haben uns nicht beschwert, sondern die Schule alarmiert. So beschrieben hört es sich an, als ob wir gleich „schwierig“ waren. Tatsächlich warnten wir auch vor anderen Mobbing-Ereignissen, die in der Schule stattfanden und schlugen im Geiste der Zusammenarbeit konstruktiv Gegenmaßnahmen vor. Wir boten zum Beispiel an, dass die Großeltern des Jungen, die als Holocaust-Überlebende oft Vorträge vor Schülern halten, auch an der Friedenauer Gemeinschaftsschule sprechen könnten. Außerdem boten wir den Kontakt zu einer jüdisch-arabischen Antidiskriminierungs-Initiative an, sowie zu kurdisch- und türkisch-stämmigen Menschenrechtlern und Aktivisten aus gemischten Familien und schwulen Organisationen.
„...als Konsequenz seien die Großeltern des jüdischen Schülers – zwei Zeitzeugen des Holocaust – zu einem Vortrag in die Klasse ihres Enkels eingeladen worden...“
Nein. Herr Runkel hat sie nicht von sich aus eingeladen, sondern er hat lediglich nach einigem Drängen das Angebot angenommen.
„...Auch habe die Schulsozialarbeit Kontakt zur Initiative Salaam-Schalom aufgenommen...“
Soweit wir wissen, gab es bis zum 15. März (also in der ganzen Zeit, in der unser Sohn die Schule besuchte) keinen Kontakt, trotz mehrmaliger Bitten und Erinnerungen von uns. Ganz im Gegenteil: Herr Runkel verteidigte das „Nicht in Kontakt treten“ mit der Aussage, „man will keinen Aktionismus.“
„...Vertreter des Netzwerks ‚Violence Prevention’, das bundesweit eine bedeutende Rolle beim vorbeugenden Kampf gegen Islamismus spielt, hätten Anfang des Jahres Vorträge gehalten...”
Von diesen Vorträgen haben wir und unser Sohn nie etwas gehört. Wo haben sie stattgefunden? Warum wurde uns darüber nichts erzählt?
„... ‚Wir können nicht sofort in alle Klassen jemanden reinschicken, dann verpufft es’, begründet er seine Position...“
Genau diese Haltung hat dazu geführt, dass es zu der Eskalation kam.
„...Das interpretierten die Eltern des 14-Jährigen offenkundig als Zögern und Aussitzen...“
Es war ein Zögern und Aussitzen.
„...Da der türkische Junge und seine Familie obendrein wieder nach Bayern zurückzogen, hielt Runkel den konkreten Fall für ausgestanden...“
Die Tatsache, dass die Schulleitung nicht von Anfang an konsequent gegen das Mobbing vorgegangen ist, hat dazu geführt, dass immer mehr Schüler dazu ermuntert wurden, meinen Sohn antisemitisch, rassistisch und homophob zu verhöhnen, zu beleidigen und ihn zu schlagen.
„...Es habe damals viele Gespräche mit den Eltern des jüdischen Schülers und des Aschaffenburgers gegeben...“
Es gab kein einziges Gespräch mit uns darüber.
„...Ich bin sicher, wir hätten das geklärt, dass die zwei Jungen miteinander klar gekommen wären...“
„Miteinander klar kommen“ suggeriert, dass es zwischen zwei Jungen einen Streit gegeben hätte. Das war aber nicht der Fall. Mein Sohn hatte sich nicht mit einem anderen angelegt, sondern er wurde von ihm antisemitisch beschimpft. Die Aussage von Herrn Runkel ist verharmlosend und entspricht überhaupt nicht den Tatsachen. Mein Sohn wollte von ganzem Herzen mit allen seinen Mitschülern „klar kommen“. Was er erfuhr, war offene Feindseligkeit von vielen.
„...Wir können ganz viel tun und trotzdem erreichen wir nicht jeden. Wir können nicht die gesellschaftlichen Probleme aus der Schule verbannen und ausradieren...“
Das suggeriert, dass er ganz viel getan hätte. Tatsächlich aber überließ er das Handeln und selbst die Beantwortung unserer Emails der Sozialarbeiterin. Die Sozialarbeiterin wiederum sagte mir, die Schule wolle nicht von uns überrollt werden.
„...In einem Leserbrief an den Berliner ‚Tagesspiegel‘ bezweifelten sie, dass eine Schule mit Jungen und Mädchen ‚aus vielen Nationen’ überhaupt vor ‚religiös motivierten Auseinandersetzungen’ gefeit sei...“
Dieser Brief einiger Eltern aus der Grundschule wurde zu Recht von Antisemitismus-Experten als kurzsichtig, kaltherzig, apologetisch und faktisch falsch kritisiert. Er basiert allerdings auf der verharmlosenden, ursprünglichen Version des Offenen Briefs, den Herr Runkel auf der Homepage der Schule und in der Presse verbreitet hatte, und in dem der Eindruck vermittelt wurde, dass es sich nur um einen einzigen Zwischenfall gehandelt habe.
„...Über Shitstorms mit menschenverachtenden Beschimpfungen und fiesen Drohungen hatte Runkel schon viel gelesen und gehört. So etwas aber am eigenen Leib zu erfahren, ist für ihn und seine Kollegen eine neue Erfahrung...“
Wieder stellt sich Herr Runkel voller Selbstmitleid als vermeintlich eigentliches Opfer in den Mittelpunkt. Kein Wort des Mitgefühls für unseren Sohn, der fast vier Monate lang nicht nur „menschenverachtende Beschimpfungen und fiese Drohungen“ erlebte, sondern auch zunehmend körperliche Gewalt. Er hatte am Ende berechtigte Angst davor, in die Schule zu gehen.
„...Schulpsychologen seien drei Tage hintereinander im Einsatz gewesen...“
Meines Wissens nach waren die Schulpsychologen nicht auf Initiative der Schulleitung wegen der Hassmails und Bedrohungen im Einsatz, sondern im Auftrag der Antidiskriminierungsbeauftragten der Schulbehörde da, um den Rassismus in der Schule zu bekämpfen.
„...um dem Image antisemitischer Einstellungen zu begegnen...“
Kein Image – eine Tatsache.
„...Prävention und Aufklärungsarbeit werde verstärkt...“
Jetzt plötzlich geht, was vorher unmöglich war und als Aktionismus verschrien wurde? Das ist nicht Herrn Runkels Verdienst, sondern geht auf die Initiative der Antidiskriminierungbeauftragten zurück.
„...Der Schulleiter verweist darauf, dass die Eltern von Anfang an gesagt hätten, ihr Sohn gehe sehr offen mit seinem Glauben um...“
Diese Aussage verstört. Heißt das, dass unser Sohn selber dran schuld ist, weil er im Ethikunterricht mit dem Thema „Religionen der Welt“ wissen ließ, dass er Jude sei? Wäre es dem Leiter einer multikulturellen Schule lieber gewesen, der Junge hätte seine jüdische Kultur verleugnet?
„...Er, Runkel, habe daraufhin mehrfach ehrlich eingestanden: ‚Wir haben damit keine Erfahrung.’...”
Lediglich beim Eingangsgespräch kam das Thema auf, weil wir gefragt hatten, ob es antisemitische Probleme an der Schule gab. Er sagte, es gäbe keine Probleme, es hätte schon einen Juden an der Schule gegeben, und da sei alles in Ordnung gewesen.
„...Bleibt also die Frage: Sind die Angriffe das typische, unreflektierte Verhalten pubertierender Jugendlicher gewesen oder steckt dahinter verwurzelter Antisemitismus? Runkel überlegt länger, ehe er die ‚sehr gefährliche Frage’ beantwortet. Schließlich meint er: ‚Es ist sehr gut möglich, dass Antisemitismus das Motiv ist. Aber wir können nicht in die Köpfe dieser Schüler schauen.’...”
Das verharmlost das Problem, lenkt sogar vom eigentlichen Problem ab, nämlich, dass an dieser Schule viel zu lange Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und allgemeines Mobbing ignoriert wurden und dass Gewalteskalationen durch Schüler im nahen Umfeld der Schule zwar wahrgenommen wurden (Schüler und Lehrer wurden in der Vergangenheit mehrmals bedroht und angegriffen), aber nichts dagegen unternommen wurde. Erst durch den Fall unseres Sohnes und der darauf folgenden öffentlichen Kritik sowie dem Einsatz der Antidiskrimierungbeauftragten der Schulbehörde werden jetzt an der Schule ernste Gegenmaßnahmen getroffen, und zwar nicht initiiert durch die Schulleitung, sondern angeordnet durch die Schulbehörde. Die Experten und Expertinnen, die derzeit mit der Schule zusammenarbeiten, bestätigen unsere Aussagen über die schlimmen Zustände.