Samstag, 12. Juni 2021

Die Grünen haben ein Antisemitismusproblem...

von Thomas Heck...

Die letzte Version des Lebenslauf Annalenas Baerbocks ist noch nicht richtig getrocknet, da kommt das nächste Ungemach auf die Grünen zu. Diesmal in der Gestalt eines vermeintlich starken Zugpferds für den grünen Wahlkampf. Carolin Emcke, die selbstverliebte und äußerst arrogante Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels und Trägerin des Carl von Ossietzky-Preis, die schon den Sohn Donald Trumps am liebsten einer Pflegefamilie zuführen wollte. Wir hatten hierüber vermutlich als einzige in Deutschland berichtet.

Nun könnte sich dieses Zugpferd als ziemlich lahmer Klepper herausstellen, hat doch ausgerechnet die unfehlbare Carolin Klimarforscher mit verfolgten Juden verglichen. Eine ziemliche Chuzpe einer linken "Israelkritikerin", die gerne auch mal kräftig gegen Israel austeilt und eine Nähe zur antisemitischen BDS-Kampagne pflegt. Genauso schlimm, ist die fehlende Resonanz der grünen Führungsriege, allen voran Baerbock und Habeck, die der rede Emckes ehrfürchtig lauschten und einer Katrin Göring-Eckhardt, die die Rede sogar ausdrücklich lobte. Man muss konstatieren: Die Grünen haben ein Antisemitismus-Problem. Warum zur Hölle muss das Leid der Juden als ultimatives Argument für grüne Politik herhalten?


Carolin Emcke hat auf dem Grünen-Parteitag Kritik an Klimaforschern in einen Zusammenhang gebracht mit dem Leid der Juden in Deutschland. Diese Ungeheuerlichkeit beschädigt nicht nur Emcke. Sondern auch die, die ergriffen lauschten: Robert Habeck und Annalena Baerbock. 

Auf dem Bundesparteitag der Grünen hielt die bekannte und vielfach ausgezeichnete Publizistin Carolin Emcke eine Rede, in der sie über den kommenden Wahlkampf sagte: „...vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.“

Dieser Satz ist ungeheuerlich, und zwar nicht ausschließlich deshalb, weil er dazu geeignet ist, sachliche und journalistische Kritik an Forschern, die die Wahrheit weder gepachtet haben noch gepachtet haben können, zu unterdrücken.

Sondern vor allem, weil er, wie man es auch dreht und wendet, das Leid der Juden in diesem Land in eine Reihe stellt mit Kritik an und auch Zorn und Drohungen gegen Virologen und Klimaforscher. Die Aufzählung der Gruppen in einem Satz wird umso absurder, wenn man sich konkret erinnert, um was es geht: Vernichtungslager, Todesmärsche, Massenmorde vor knapp 80 Jahren. Heute findet offener Judenhass massenhaft auf deutschen Straßen statt, häufig von Rechtsextremen, zunehmend von Migranten.

 

 

Kein Virologe, kein Klimaforscher, so heftig und verurteilenswert die Angriffe auf sie in Einzelfällen sind, muss so etwas erleben, keiner von ihnen blickt auf eine solche Geschichte zurück. Die Phänomene auch nur in einen Zusammenhang zu stellen, bedeutet entweder, unfassbar nachlässig zu formulieren oder eine bewusste Grenzverschiebung zwischen den Zeilen zu ermöglichen: das Leid der Juden als ultimatives Argument für grüne Politik. Für nachlässige Formulierungen ist die Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nicht bekannt.

Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen schrieb nach der Rede öffentlich: „Danke an Carolin Emcke für eine große Rede für Aufklärung, für Wahrheit, die zumutbar ist, für die Wirklichkeit.“ Göring-Eckardt ist offensichtlich interessiert daran, die nächste deutsche Bundespräsidentin zu werden.


 


Man stelle sich vor, ein konservativer oder rechter Publizist hätte das Leid der Juden in einer solchen Aufzählung bagatellisiert, eine konservative oder rechte Parteispitze hätte ergriffen gelauscht, der oder die Fraktionsvorsitzende applaudiert. Vor ein paar Wochen wurden Hans-Georg Maaßens Äußerungen über „Globalisten“ zu Recht sehr kritisch diskutiert. Vor wenigen Monaten hagelte es, ebenfalls zu Recht, Häme für „Jana aus Kassel“, die junge Frau, die sich auf einer Querdenker-Demonstration unerträglicherweise in der Tradition von Sophie Scholl sehen wollte. 

Eine solche Debatte ist nun notwendig über die Worte von Frau Emcke, den Applaus von Frau Göring-Eckardt, das ergriffene Lauschen von Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Erschienen in der WELT...

 


Wenn Hohepriester Elitenkritik für eine ganz schlechte Sache halten

Die Debatte um Carolin Emckes Verwendung des Wortes "Juden" beißt sich an einer Nebenfrage fest. Auch ohne diesen Begriff wäre ihre Rede autoritär und antiaufklärerisch gewesen. Damit passt sie allerdings gut in die Zeit 

IMAGO / Klaus W. Schmidt 
Carolin Emcke erhielt im Juli 2020 den Verdienstorden von Nordrhein-Westfalen

Debatten führt das wohlmeinende Milieu in Deutschland hauptsächlich zu dem Zweck, die Hausordnung dort wieder herzustellen, wo sie nie ernsthaft gefährdet war, nämlich in der eigenen Oberstube. Als wichtigstes Mittel dazu dient die Begriffsexegese. Denn die lässt sich so durchführen, dass im eigenen intellektuellen Haushalt garantiert kein Zierteller von der Wand fällt. Wenn fast zur gleichen Zeit ein Mob vor einer Synagoge steht und „Scheißjuden“ brüllt, und ein CDU-Politiker von „Globalisten“ spricht, dann weiß der Kenner schon, welcher Frage sich die meisten Wohlmeinenden in Deutschland mit Nachdruck zuwenden: Nämlich der Frage, ob es sich bei dem Politiker um einen strukturellen und verdeckt operierenden Antisemiten handelt. Ein Redakteur des Spiegel gab zu bedenken, dass der Betreffende seine Signale so strukturell und klandestin aussendet, dass er selbst nichts davon merkt. 

BAERBOCK & HABECK SCHWIEGEN
Grünen-Parteitag: Rednerin vergleicht Klimaforscher mit verfolgten Juden
Unmittelbar nach dem Grünen-Parteitag lief dieser Diskursprozess rückwärts. Es gab eine Passage in der Rede der als Gast zugeschalteten Publizistin Carolin Emcke, in der es – anders als bei Maaßen –  auch um den Begriff Juden ging, eingebettet in einen sogenannten Kontext.

Und dieses Mal muss durch die Auslegungsexperten nachgewiesen werden, dass es sich nicht um ein Code- und Signalwort handelt, nicht um einen doppelten Bedeutungsboden, sondern im Gegenteil um einen böswillig aus dem Zusammenhang gerissenen Begriff. Die Passage, um die es geht, lautet: 

„Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von ‚Elite’ gesprochen werden und vermutlich werden es dann nicht die ‚Juden’ und ‚Kosmopoliten’, nicht die ‚Feministinnen’ und ‚Virolog*Innen’ sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscher*Innen.“  

Der Kontext, in dem bekanntlich alles zu sehen ist, gibt leider nicht her, wer radikaler Wissenschaftsfeind ist, zynisch ausbeutet, mobilisiert, von Elite in Anführungszeichen spricht und vor weiteren teils gegenderten, teils ungegenderten Personengruppen warnt. Ressentiment, Gewalt, Sprechen und Warnen – alles sehr verschiedene Dinge – fließen in dieser Passivkonstruktion zu einem einzigen Sulz ineinander.

Die Kritik an Emcke und dem zuhörenden Spitzenpaar Annalena Baerbock und Robert Habeck entzündete sich bekanntlich daran, dass ein ungenannter Feind Elitenkritik üben wird, dann aber nicht wie früher vor Juden und Kosmopoliten warnen will, sondern vor Klimaforschern. Der Satz fädelt also Juden, Kosmopoliten und Klimaforscher auf die gleiche Schnur. Er vergleicht nicht, er sagt nicht, Klimaforscher würden heute so verfolgt wie Juden früher, suggeriert aber, diejenigen, die heute etwas gegen Klimaforscher vorbringen würden, ähnelten den früheren Judenfeinden. Was Emcke sagt, suggeriert also, rührt zusammen, reiht Signalwörter auf. Eine deutlich die Judenverfolgung bagatellisierende Aussage gibt es trotzdem nicht, und zwar aus einem Grund: Dem Satz fehlt von vornherein jede deutliche Aussage. Seine Satzglieder hängen schief aneinander wie die Waggons eines entgleisten Zuges. Das macht es den wohlmeinenden Exegeten leicht, Carolin Emcke gegen den Vorwurf des rhetorischen Spieltricks zu verteidigen. Jedenfalls kostet es weniger Mühe, als in Maaßens ‚Globalisten’ Spurenelemente von Antisemitismus nachzuweisen. Diejenigen aus Medien- und Politikbetrieb, die sich gerade darum bemühten, den CDU-Politiker zum Kryptoantisemiten zu machen, und sich jetzt darüber beklagen, Emckes Wort würde aus dem Kontext gerissen, erinnern ein bisschen an Capitain Renault in „Casablanca“, der in seinem Stammcasino ausruft, als die Razzia beginnt: „Ich stelle fest, hier wird Glücksspiel betrieben. Ich bin entsetzt, schockiert“, während er sich schnell seine Jetons in die Tasche stopft. 

Auch ohne Verwendung des Wortes ‚Juden’ wäre Emckes Satz ein intellektueller Unfall. Seit einiger Zeit gehört es zu den festen Bestandteilen in linksmoralischen Reden, Kritik an Eliten als etwas Ungehöriges und Gefährliches zu brandmarken. Schon 2018 warnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer auch sonst bizarren Rede vor „selbsternannten Kämpfern gegen die sogenannten ‚Eliten’“, wobei er nicht mitteilte, wer in seiner Welt Antielitekämpfern die Ernennungsurkunden ausstellt. Bei einer anderen Rede meinte er: „Neue Nationalisten verbreiten die Theorie, dass sich die sogenannten Eliten und die Medien gegen das Volk verschwören.“ 

Der Soziologe und Eliteforscher Michael Hartmann, um das kurz einzufügen, ist tatsächlich der Ansicht, die westlichen Eliten hätten sich heute stark von der Gesamtgesellschaft entfernt. Hartmann steht politisch links; nach Steinmeier wäre er ein „neuer Nationalist“. 

Die „Bundeszentrale für Politische Bildung“, die sich immer mehr zu einer ideologischen Agitprop-Plattform wandelt, zählt Elitekritik zu den Wesensmerkmalen des Populismus; sie spricht von einer „Aversion gegen die ‚Bevormundung’ des Volkes durch Funktionseliten“ und lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Aversion für das Problem hält. Nach genau diesem Muster warnt also auch Emcke, Kritik an Eliten sei eine hochbedenkliche Sache. 

Nun handelt es sich bei Elitenkritik um den Streitmodus von Gesellschaften schlechthin. Überall gibt es ein soziales und politisches Oben und Unten. Zu allen Zeiten neigten diejenigen, die oben sitzen, dazu, ihren Anspruch entweder von Gott abzuleiten, von der eigenen edlen Abstammung, heute eher von der Wissenschaft beziehungsweise einem globalen Auftrag wie dem Klimakampf, aber  jedenfalls immer von einer absoluten und unhintergehbaren Institution. Und zu allen Zeiten gab es Leute, die an dieser Ableitung etwas auszusetzen hatten. Wie groß die Aversion ausfällt, hing ebenfalls zu allen Zeiten nicht zuletzt vom Verhalten dieser Eliten ab. Das Mitglied eines Hamburger Millionärsclans, das schon die ganze Welt per Langstrecke bereist hatte, um dann der Welt zu erklären, dass Kurzstreckenflüge abgeschafft und der Autoverkehr halbiert gehören, eine solche Person hätte in allen Epochen einen gewissen Widerwillen beim  Pöbel erregt.

Screenprint via Twitter / Luisa Neubauer

Kritik der Eliten nach Unten gab es ebenfalls zu allen Zeiten, nämlich in Gestalt der Aufforderung, Eliten nicht zu kritisieren und sich unbedingt an die moralischen Gebote zu halten, die weiter oben zu allen Zeiten, wie man heute sagt, situativ gehandhabt wurden. 

Elitenkritik war früher das selbstverständliche Metier der Linken, wobei die Betreffenden wenig zimperlich vorgingen, beispielsweise Frank-Walter Steinmeier, als er noch in Beiträgen für eine aus Honeckers Kasse finanzierte Zeitschrift Klassenkampf betrieb. Dass er jetzt als Politiker an der Staatsspitze Elitekritik für eine sehr ungute Sache hält, ist noch ein bisschen unorigineller als jede Bundespräsidentenrede. 

Die Ansicht, dass Eliten Kritik ertragen müssen, ist gerade eine Frucht der Aufklärung

Wie Steinmeier und viele andere gehört Emcke selbst zur Funktionselite dieser Gesellschaft, tut aber so, als befände sie sich in einer gefährdeten Position am Rand und sei durch Kritik bedroht. In ihren Sätzen auf dem Grünen-Parteitag begeht sie auf den ersten Blick einen klassischen Kategorienfehler. Auf den zweiten Blick handelt es sich aber um keinen Fehler, sondern um Absicht, wenn sie „Feministinnen, Virolog*Innen und Klimaforscher*Innen“ als Kollektive behandelt, die sie nicht sind. In der Corona-Pandemie gab es bekanntlich heftigen Streit zwischen Virologen und anderen Wissenschaftlern über den Sinn und Unsinn staatlicher Maßnahmen.  Die Auseinandersetzung zwischen klassischen Feministinnen wie Alice  Schwarzer und „intersektionellen Feministinnen“, die Schwarzer als „Rechtsfeministin“ schmähen, übertrifft in ihrer Erbitterung und Bösartigkeit (von Seiten der intersektionellen) bei weitem alle pauschalen Attacken auf Feministinnen allgemein. Mag sein, dass irgendjemand Klimaforscher in toto angreift. Spielt das eine gesellschaftliche Rolle?

Interessant sind die sehr grundlegenden Meinungsunterschiede zwischen einem Apokalyptiker wie Joachim Schellnhuber und einer Forscherin wie Judith Curry, die skeptisch auf die Erklärungskraft von Klimamodellen schaut. Wer so tut, als würde es sich jeweils nur um etwas wie wie Glaubensgemeinschaften handeln, die Nichtgenannte mit „Ressentiment und Gewalt“ (Emcke) unterschiedslos bedrohen, der will vor allem nicht über die tatsächlichen Debatten beispielsweise zwischen Wissenschaftlern reden. Er will nicht nur selbst nicht darüber reden, sondern auch, dass möglichst überhaupt niemand darüber spricht. Die Benutzung des Signalworts ‚Juden’ ist da nur noch eine Extrazutat. Wer konstruierte Gebilde wie die Wissenschaftoder den Feminismus kritisiert, aber auch und vor allem, wer einzelne Vertreter der linksmoralischen Kaste nicht ohne weiteres als Priester anerkennt, soll mit diesem rhetorischen Trick auf eine moralische Stufe mit Antisemiten gedrückt werden. Das verkündet Emcke wie gesagt nicht explizit, weil explizites Reden nicht ihre Sache ist. Aber sie weiß wie eine Hütchenspielerin genau, welchen Subtext sie hin und her bewegt. Sie benutzt die gleiche Methode wie kürzlich die Vorsitzende der Amadeo Antonio-Stiftung Anetta Kahane, die vor der Bundespressekonferenz verkündete, Kritik beispielsweise an Bill Gates sei „Verschwörungstheorie“ und „strukturell antisemitisch“; ihr Zirkelschluss lautete: Kritik an Gates ist verschwörungstheoretisch, Antisemitismus ist im Kern eine Verschwörungstheorie (was tatsächlich zutrifft), also ist jeder, der etwas gegen den Microsoft-Gründer vorbringt, ein abgeleiteter Antisemit. 

Es dient der Klarheit des Denkens enorm, sich das Kategorienverhältnis bewusst zu machen, am besten mit dem Lehrsatz: Alle Dackel sind Hunde, aber nicht alle Hunde sind Dackel. Es gibt Verschwörungstheorien über und zu Bill Gates  – aber längst nicht jede Kritik an ihm ist eine Verschwörungstheorie. Es gibt eine Menge antisemitischer Aussagen über George Soros. Aber nicht jede Kritik an Soros ist antisemitisch. Es finden sich auch allgemein verschwörungstheoretische und antisemitische Töne in Äußerungen gegen Eliten. Das macht aber noch lange nicht jede Elitenkritik zu etwas Verschwörerischem und Antisemitischem. Es kommt auf die Kritik an.

Die Ansicht, dass Eliten Kritik an sich ertragen müssen, ist gerade eine Frucht der Aufklärung. Das gilt auch, wenn Elitenpositionen heute im Westen überwiegend linksmoralisch besetzt sind. Gates und Soros sind ohne Zweifel Personen, die nicht nur viel Geld in ihren Händen konzentrieren, sondern auch ungewöhnlich viel Macht. Dazu kommt, dass sie kein durch Wahlen gewonnenes Mandat besitzen. Kritik an Mächtigen ist das Kennzeichen offener Gesellschaften. Macht ohne Mandat eher nicht. 

In ihrer eingespielten Rede zum Grünen-Parteitag behauptet Emcke, Aufklärung und Rationalität zu verteidigen. Tatsächlich betreibt sie das exakte Gegenteil: Sie versucht, eine Funktionselite von Wissenschaftlern zu sakralisieren und die Kritik an ihr zu verketzern. 

ANNALENA BAERBOCK ALS TYPUS
Das Drama des unbegabten Kindes oder was die Grünen zum Geifern bringt
Ihr selbst fällt das möglicherweise nicht auf. Denn das, was die immer noch als „Habermas-Schülerin“ apostrophierte 54jährige Autorin von sich gibt, passt zwar mit ihren Klingelwörtern wunderbar in die linksautoritäre Zeitströmung, ist aber – das muss an dieser Stelle einmal gesagt werden – über sehr weite Strecken allererbärmlichster unkonziser antiintellektueller Schrott. Und das nicht erst seit gestern. Kurz vor ihrem Auftritt bei den Grünen gehörte Emcke zu den Diskutanten einer SPD-Veranstaltung zu dem gut angedorrten Thema, wie sich die berühmten linken Mehrheiten finden lassen. In ihrem Schlusswort sagte sie folgendes, wörtlich transkribiert: 

„Wir müssen über die Frage nachdenken, was der Zusammenhang von Demokratie und Wahrheit ist. Wenn ich mir diese Fragen – wir können die Wohnungsfrage auch noch nehmen. Ich fang’ jetzt mal mit den Fragen an, dann würde ich sagen: Das sind Fragen, die eigentlich gemacht sind dafür, dass es linke Antworten darauf gibt. Denn alle diese Fragen sind Infrastrukturfragen, alle diese Fragen sind Fragen der Gemeinwohl-Orientierung, alle diese Fragen sind Fragen der – ja der Gerechtigkeit. Und insofern, wenn ich von der Problemstellungen ausgehe, würde ich sagen, die Probleme sind wie gemacht für progressive Mehrheiten und linke Antworten darauf. Ob die SPD das jetzt auch so sieht, kann ich nicht sagen, aber das wäre jetzt mal zumindest mein strategischer Shot.“

„Der Zusammenhang von Demokratie und Wahrheit“, was immer das ansonsten für eine Frage sein soll, ist also eine „Infrastrukturfrage“? Und von welcher Problemstellung geht sie nun nach diesem Begriffssoufflé aus Demokratie, Wahrheit, Wohnungsfrage, Infrastruktur und Gerechtigkeit aus? Was wären die linken Antworten respektive der strategische Shot darauf, wenn noch nicht einmal ihre Fragen als intakte Sätze daherkommen? Das ist jedenfalls exakt der gleiche Stil wie in ihrer Grünen-Parteitagsrede, nur noch ein bisschen konfuser. Es sieht so aus, als hätte sich die Autorin nie wieder davon erholt, dass sie 2016 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihr Werk „Gegen den Hass“ bekommen hatte. Darin walzt sie auf 240 Seiten die Gedanken aus, dass es erstens eine gute Seite gibt, zu der sie selbst fraglos gehört, zweitens die anderen, die den Hass verbreiten, den sie überraschenderweise ablehnt, und drittens, dass fast alle Übel durch die Unterscheidung von wir und die zustande kommen. Dass es so etwas wie Hass auch in ihrem politischen Spektrum geben könnte, erwägt sie gar nicht erst. 

Ein berühmter Satz von Oscar Wilde lautet: „So etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.“ 

Dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels gefiel es damals, den Satz von Wilde ins Gegenteil umzukehren. Allerdings: Verglichen mit „Gegen den Hass“ markieren Emckes Bemühungen, intellektuellen Glanz in die Hütten von SPD und Grünen zu zaubern, noch einmal einen erheblichen geistigen Abstieg, ja sogar die vorläufige Talsohle ihrer Laufbahn. Ihre Ansprache vor den Grünen lobte Katrin Göring-Eckardt als „eine große Rede für Aufklärung, für Wahrheit, die zumutbar ist, für die Wirklichkeit“. Was nur zeigt, dass die Frau, die sich als Bundespräsidentin für zumutbar hält, ebenfalls schon perfekt einen sinnlosen Wortauflauf zubereiten kann. 

Auf diesen Boden wächst gerade eine neue autoritäre Gesellschaft heran

Über das Klima im Land sagt es sehr viel, dass sich das Kommentariat an der Nebenfrage festbeißt, ob die Aufreihung von ‚Juden’ in Emckes Rede vertretbar, antisemitsmusverharmlosend oder sogar antisemitisch war, und dabei die zentrale Frage übersieht, willentlich oder aus Unvermögen, dass ihre Botschaften antiaufklärerisch und autoritär sind. Und dass sie es auch ohne das Wort ‚Juden’ wären. Mit ihrer Antiaufklärung steht sie nicht allein. Wer ein ganz ähnliches postdemokratisches Geklapper lesen will, muss nur in den Werbetext zum Buch von Charlotte Annalena Alma Baerbock „Jetzt“ schauen: 

„Jede gute Politik beginnt damit, sich der Wirklichkeit zu stellen. Die Dinge, die sind, anzuerkennen, um sie zu verändern. Aber sie darf damit nicht enden. Statt wie bisher als allererstes die ängstliche Frage zu stellen: ‚Oh je, geht das überhaupt?’, sollten wir uns fragen: Was muss getan werden, damit das Nötige möglich wird? Darüber habe ich ein Buch geschrieben.“

Doch, „geht das überhaupt?“ gehört zu den ersten und wichtigsten politischen Fragen, jedenfalls in westlichen Gesellschaften, die noch nicht in der Postdemokratie angekommen sind. Wer diese Grundfrage als ängstlich beiseiteschieben und gar nicht debattieren will, sondern stattdessen das Nötige beschwört, bei dem alle mitmachen müssen, der harmoniert natürlich bestens mit Leuten, die Elitenkritik schlimm finden, seit sie selbst zur Funktionselite gehören, und als Verschwörungstheorie beschreien, was ihnen nicht passt. Vor allem ist der- oder diejenige ein lupenreiner Postdemokrat. Die Frage nach der Praktikabilität von Politik für falsch und schlecht zu erklären, das ist Okkultismus, Voluntartismus, Dummheit – und das Gegenteil von Rationalität 

In diese Riege fügt sich auch die von der Kanzlerin gelobte und preisgekrönte Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim ein, die kürzlich in einem Interview mit RND meinte: „Streiten können wir natürlich immer. Aber es wäre toll, wenn wir weniger über das diskutieren, was bereits als sichere wissenschaftliche Erkenntnis gilt.“ 

Vor der Relativitätstheorie galt die Ausschließlichkeit der Newton’schen Physik als sichere wissenschaftliche Erkenntnis, vor der modernen Medizin die Körpersäftelehre. Auch zur Notwendigkeit der Euthanasie gab es einmal einen breiten wissenschaftlichen Konsens, von dem Schweizer Sozialisten Auguste Forel bis zu amerikanischen Ärzten. Fast jede neue wissenschaftliche Erkenntnis entstand bei der Zertrümmerung einer alten, die einmal galt. Bis vor kurzen galt noch die Ansicht als praktisch unerschütterbar, das SARS-CoV-2-Virus könnte unmöglich aus einem Labor stammen, und jede andere Vermutung als irre Verschwörungstheorie.

Maaßens Bundestagskandidatur: Chemnitzer Hetzjagd-Legende, Teil II
In genau dieses Horn, bestimmte Aussagen von Wissenschaftlern für undiskutierbar zu erklären, tutete kürzlich auch ein Zeit-Autor. Das Diskutieren einschränken – natürlich nur bei den gerade nützlichen wissenschaftlichen Ansichten – , Wissenschaftler zu Priestern befördern, wenn sie das eigene Milieu stützen, Eliten nicht mehr befragen, wenn es die richtigen sind: Auf diesem Boden wächst gerade eine neue autoritäre Gesellschaft von Leuten heran, die frei nach Gerhard Polt sagen: „Ich brauch keine Opposition, weil ich bin schon so reflektiert.“ 

Allerdings meinen sie das nicht als Witz. 

Auch alle wirklichen Fortschritte wurden natürlich gegen frühere Eliten und Mehrheitsmeinungen durchgesetzt. Als William Wilberforce begann, sich gegen die Sklaverei einzusetzen, gehörte er zu den Außenseitern. Er trat unter etwas anderen Bedingungen an als die Wohlmeinenden, die mehr als 200 Jahre nach ihm die Sklaverei moralisch verdammen, allerdings nur die längst abgeschaffte Sklaverei des Westens, nicht die in muslimischen Ländern, die immer noch existiert. 

Das – die selbstgefällige Abwicklung von Aufklärung und Kritik durch eitle Vorbeter – müsste heute ein großes öffentliches Thema sein. Stattdessen gibt es dort im angestammten intellektuellen Milieu eine riesige Leerstelle. Die Debatte findet allenfalls an den Rändern statt. Anders ginge es aber auch schlecht in einem Land, in dem Leute wie Emcke, Precht, Hirschhausen, Nguyen-Kim und eine Menge von publizistischen Putzerfischen die öffentlichen Gedankengänge verstopfen. 

Dieses Milieu würde vermutlich auch Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung“ als krude und gefährlich geißeln, wenn er jetzt noch einmal erschiene. Sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen – unerhört. So spricht der Verschwörungstheoretiker, der behauptet, es gebe überhaupt Leute, die den Verstand von anderen leiten wollen. Die gibt es natürlich nicht. Diesen Merksatz, an dem nicht zu zweifeln ist, wiederholen wir jetzt alle. 

Eine Professur könnte sich der Mann heute abschminken. 

Erchien in Tichys Einblick...



Das Drama des unbegabten Kindes oder was die Grünen zum Geifern bringt

„Menschenverachtend. Dreckige Giftspritzerei. Widerwärtiger Dreckspatz“ (Reinhard Bütikofer) - das sind die Reaktionen der Grünen auf unseren Beitrag, der die Frage stellt: Wie kann der Typus Annalena Baerbock überhaupt noch Wähler finden?

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld 












In der Folge „The Hot Towel“ der Serie „Curb your Enthusiasm“ gibt es die berühmte Geschenksong-Szene. Auf einer Party eines befreundeten Paares, zu der Larry David mit seiner Frau eingeladen ist, verkündet eine ebenfalls eingeladene Frau, sie würden dem wunderbaren Gastgeberpaar nichts Materielles schenken – „ihr habt offenbar schon alles“ – sondern ein Lied ihrer unglaublich begabten Tochter Sammi.

Das Mädchen beginnt mit einem Vortrag, bei dem sie keinen einzigen Ton trifft. Bei dem im Krächzgesang vorgetragenen Lied handelt es sich um „Can’t Take My Eyes Off You“, und tatsächlich starren die Gäste Sammi wie auf den berühmten Verkehrsunfall, von dessen Anblick man sich bekanntlich auch nicht losreißen kann. Jemand würgt leise ein ‚Oh God‘ heraus. In postmateriellen Kreisen – die gesamte Serie spielt unter Bessergestellten in Los Angeles – bleiben die Leute höflich und stoisch, weil sie wissen, dass auch der Auftritt einer hochbegabten Tochter irgendwann zu Ende geht. Nur nicht Larry mit seiner Unmusikalität für gesellschaftliche Situationen: Er würgt sie in dem Moment, als Sammi zum Refrain ansetzen will, mit einem ultimativen Applaus ab und ruft in die Runde: „Das war gut. Sehr gut.“

Das Mädchen zieht nur ein wütendes und beleidigtes Gesicht, ist aber augenscheinlich zu verdaddert, um etwas zu sagen. Ihre Mutter zischt: „Warum unterbrichst du sie, Larry? Warum wartest du nicht, bis sie zu Ende gesungen hat?“ Worauf Larry sehr larryhaft antwortet: „Was? Der Song war vorbei.“ „Nein, der Song war nicht vorbei“, sagt die Mutter, die deutlich wütender ist als Sammi: „Du weißt, dass der Song nicht vorbei war. Du hast das ganze Geschenk ruiniert!“

Natürlich wusste Larry, dass der Song nicht vorbei war. Auf seine Angewohnheiten, Konventionen zu ignorieren oder gar nicht wahrzunehmen, hatten wir schon hingewiesen. Gewiss, es wirkt sehr herzlos, in einer festlichen Runde die Aufführung einer sehr untalentierten Tochter von Bekannten abzukürzen, zumal in besseren, höflichen Kreisen. Andererseits fallen die Partygäste sofort in Larrys Schlussapplaus ein, weil sie ebenfalls wissen, dass es normalerweise noch lange nicht vorbei gewesen wäre. Selbst Sammi hätte objektiv betrachtet Grund, Larry dankbar zu sein. Es gibt nämlich auch das Drama des unbegabten Kindes. Es besteht beispielsweise darin, von einer psychotischen Mutter unglaubliches Talent eingeredet zu bekommen und nach vorn geschoben zu werden.

Wenn sie aufhören würde, wäre die Erleichterung nirgends größer als im Wahlkampf-Stab der Grünen.

Nun ist der Bundestagswahlkampf eigentlich keine Party in einer Villengegend. Und es gibt wahrscheinlich auch institutionell niemand, der jetzt, im Juni 2021 ‚sehr gut, sehr gut’ rufen, klatschen und den Auftritt der Kanzlerkandidatin Annalena Charlotte Alma Baerbock für beendet erklären könnte, obwohl sich dann ähnlich wie in der Szene Erleichterung mit lebhaftem Applaus breitmachen würde, am tiefsten, heimlichsten und ehrlichsten wahrscheinlich im Wahlkampfstab der Grünen.

Dass Baerbock und ihren Helfer schon daran scheitern, innerhalb von zwei Wochen den kurzen Lebenslauf der Vierzigjährigen so aufzuschreiben, dass er Nachfragen standhält – diese Unfähigkeit wirkt erstaunlich, macht aber nur einen Teil des Baerbock-Problems aus. Und dieser Teil könnte sich am Ende auch noch als der kleinere herausstellen.

Manche Beobachter, die ähnlich wie bei Sammi Augen und Ohren nicht abwenden können, fragten in den letzten Tagen, ob denn in Baerbocks Umgebung niemand damit gerechnet hatte, dass selbst eine grüne Kanzlerkandidatin in Deutschland so etwas wie Wahlkampf absolvieren muss, zu dem es nun einmal gehört, dass zwar nicht die Faktenchecker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit seinem Acht-Milliarden-Etat oder ein stiftungsfinanzierter Konzern wie Correctiv in der Vita einer bisher praktisch unbekannten Kandidatin herumstochern, aber die eine oder andere Einzelfigur eben doch. Ob sie denn nicht, fragten sich diese Beobachter, einer aus dem Team der Bewerberin wenigstens eine Folge von „House Of Cards“ gesehen hätte?

Eigentlich genügt schon der Blick in ein viel älteres Buch, „Primary Colors. A Novel Of Politics“ von Joe Klein, erschienen 1996. Dort gerät Präsidentschaftsbewerber Jack Stanton – ein nur leicht literarisierter Bill Clinton – trotz seiner Begabung in Schwierigkeiten, die aus seiner Biografie stammen, eine andere Art von Schwierigkeiten als die von Baerbock, aber handfest genug, um seine Kampagne zu gefährden. Er engagiert deshalb eine Frau namens Libby Dustbuster, eine Spezialistin für das Aufspüren großer und kleiner Schwachstellen, die früher oder später auch ein Journalist herausfinden könnte. Libbys Arbeitsmotto ähnelt der Katzenstreu-Werbung: Saugt auf, bevor Geruch entsteht.

Möglicherweise konnten die Grünen eine solche Fachkraft nicht finden, oder sie hätten jemand an der Hand gehabt, aber Baerbock war der Ansicht, bei ihr gebe es keine Lücken und Schwachstellen. Jetzt spielt die Frage keine Rolle mehr. Das Geld für eine noch so begabte Dustbusterin kann sich der Wahlkampfstab der Grünen sparen. Denn, siehe oben: der Geruch ist längst entstanden. Er breitet sich seit gut drei Wochen jeden Tag etwas stärker aus.

Die ersten Anfragen zu Baerbocks Lebenslauf erreichten die Bundesgeschäftsstelle der Grünen in der ersten Maihälfte, unter anderem von dem Blogger Hadmut Danisch und von dem Autor dieses Textes, der Anfang Mai bei der Universität Hamburg nachforschte, und am 10. Mai eine Reihe von Fragen zu Ungereimtheiten im Lebenslauf der Kandidatin an Baerbocks Sprecher mailte. Von dort kam keine Antwort, allerdings verschickte Partei-Sprecher Andreas Kappler einen Tag später die Faksimiles zweier undatierter Urkunden, des Vordiploms von Baerbock in Hamburg und ihres Master-Abschlusses in London. Kappler behauptete, „es kursieren erneut Falschmeldungen über Annalena Baerbock, diesmal über ihre akademische Ausbildung“, und behauptete, die „Fakten“ zu liefern. Auf etlichen Internetseiten der Partei, der Fraktion, der Parteistiftung und bei Wikipedia fanden umfangreiche Aufräum- und Umbauarbeiten statt. Es verschwand die Behauptung, sie hätte in Hamburg eines Bachelor-Abschluss erworben (diese Falschmeldung beispielsweise kursierte sowohl bei den Grünen als auch bei etlichen Medien).

Aus ihrem Masterabschluss in Völkerrecht an der London School of Economics, der suggerierte, sie sei Juristin, wurde ein Abschluss in Internationalem Recht. Dann verschwand auch der Hinweis auf ihre angefangene Völkerrechts-Promotion an der FU Berlin, die sie schon 2015 endgültig abbrach, bis vor den Putzarbeiten aber noch so dargestellt hatte, als würde die Promotion nur ruhen. Aus der Politologin und Juristin mit LLM und kurz vor der Doktorwürde wurde also Mitte Mai eine mitteljunge Frau, die ihr Studium in Hamburg abschlusslos beendet hatte, sich dann für umgerechnet etwa 11 000 Euro in einen Jahreskurs an den LSE einkaufte, bei dem laut Universitätsannalen noch nie ein Absolvent scheiterte, und die es mit diesem Papier wiederum als Promotionsstudentin an die FU schaffte, allerdings, ohne dort etwas abzuliefern. Hier, nach diesem ersten Waschdurchgang, in dem die Vita schon erheblich zusammenschrumpelte und ausfaserte, wäre der allerletzte sinnvolle Zeitpunkt für einen Libby-Dustbuster-Einsatz gekommen, die zusammen mit der Kandidatin jedes weitere Komma im Lebenslauf hätte abklopfen müssen. Bekanntlich passierte das nicht.

Dabei hätte Baerbock sogar einen kompetenten Berater in ihrer Nähe gehabt, theoretisch jedenfalls. Ihr mittlerweile pensionierter Vater Jörg Baerbock arbeitete als Personalchef bei dem Automobilzulieferer Wabco in Hannover. Er müsste wissen, wie ein wasserfestes Bewerbungsschreiben aussieht, und welche Fehler jemand unbedingt vermeiden sollte. Beispielsweise alle, die bei Annalena Baerbock dann noch folgten.

In den nächsten Wochen erledigten sich dann durch Nachfrage des FAZ-Journalisten Philip Plickert und von Don Alphonso mehrere Pseudo-Mitgliedschaften in ihrem Lebenslauf, etwa beim UNHCR – in dem es gar keine Mitgliedschaft von Einzelpersonen gibt – und beim German Marshall Fund, wo sie einmal einen Kurs absolvierte, mehr aber auch nicht. Dann schrumpfte noch ihr Büroleiterposten bei der EU-Abgeordneten Elisabeth Schroedter zusammen: in der neuen Biografieversion übte sie den „nicht die ganze Zeit“ aus, die sie ursprünglich angegeben hatte. Und auch nicht überwiegend von Brüssel aus. In der vorerst letzten Umbaustufe kippte auch noch die freie Mitarbeit bei der „Hannoverschen Allgemeinen“ von 2000 bis 2003 aus dem Lebenslauf, keine Kleinigkeit, denn es handelte sich um ihre einzige Tätigkeit außerhalb der Berufspolitik. Aber eben nicht ganz um die Tätigkeit, die sich die Öffentlichkeit unter der einer freien Journalistin vorstellt. Im Archiv der Zeitung finden sich für die drei Jahre gerade eine handvoll Beiträge, ein Text beispielsweise über die Stimmung bei Abiturienten in ihrem Heimatort („zwei ZiS-Autorinnen fassen ihre Abi-Gefühle in Worte“) – ZiS, Zeitung in der Schule, steht für eine Kooperation des Blattes mit Schülern), ein Bericht über eine Theateraufführung in einer Kirche, ein Artikel über den TSV Schulenburg.

Zu einer Vita, die jetzt nur noch ein mit etwas finanziellem Einsatz hingebogenes Studium und ausschließlich Berufsstationen in der Politik enthält, kam dann noch die Sache mit den spät nachgemeldeten Nebeneinnahmen und dem steuerfreien Corona-Bonus von 1500 Euro, der eigentlich nur für Angestellte gedacht ist. Als Parteivorsitzende arbeitet Baerbock nicht im Angestelltenstatus, als gut versorgte Abgeordnete mit 10083,47 Euro Diät im Monat hätte sie den Bonus außerdem nicht nötig gehabt.

Keine Lust, sich sagen zu lassen, „das kann nicht funktionieren“

Hier beginnt der deutlich unangenehmere Teil der Geschichte, unangenehm für Baerbock, ihr Team und das Unterstützungsumfeld in den Medien: Verfehlungen wie das unberechtigte Kassieren eines Corona-Bonus, das späte Nachmelden von Nebeneinkünften und das Aufblasen des eigenen Lebenslaufs wären weniger gravierend, wenn es irgendeinen Ausgleich gäbe, ein politisches Verdienst oder zumindest irgendetwas von Gewicht in ihrem Wirken und Wesen. Aber gemessen an dem, was sie ohne Zwang und nach eigenen Ambitionen anstrebt – nämlich das Kanzleramt – sieht es auf dieser Seite ihrer Bilanz noch viel, viel schlechter aus.

Die „New York Times“ zählte während der Amtszeit von Donald Trump seine falschen und irreführenden Aussagen, und nummerierte sie durch – oder was sie dafür hielt – , manches auf der NYT-Liste bewegte sich auf der wichtigtuerischen Faktenchecker-Ebene, aber es kam auch allerhand zusammen. Eine Baerbock-Liste nach diesem Muster legte bisher kein Medium in Deutschland an, obwohl sie mittlerweile auch ziemlich umfangreich ausfallen würde.

Annalena Baerbock erfand in ihrem mittlerweile legendären Deutschlandfunk-Interview (21.1.2018) das Speichernetz: „An Tagen wie diesen, wo es grau ist, da haben wir natürlich viel weniger erneuerbare Energien. Deswegen haben wir Speicher. Deswegen fungiert das Netz als Speicher. Und das ist alles ausgerechnet.“ Wie ein Netz, das nur stabil funktioniert, wenn so viel eingespeist wie entnommen wird, als Speicher funktionieren soll, begründete sie nicht, baute aber schon einmal mit einer Art Generalklausel möglichen Nachfragen vor: „Ich habe irgendwie keine wirkliche Lust, mir gerade mit den politischen Akteuren, die das besser wissen, zu sagen, das kann nicht funktionieren“.

Sie behauptete bei Maybritt Illner (am 13. 12. 2018), die Deutschland hätte einen CO2-Aussstoß „von 9 Gigatonnen pro Einwohner“. Tatsächlich waren es 2018 8,9 Tonnen. Eine Gigatonne bedeutet: eine Milliarde Tonnen. Der weltweite CO2-Ausstoß lag 2020 bei etwa 40 Gigatonnen.

In einem Interview mit dem Blogger Tilo Jung sprach sie von der „UN-Charta als höchstes Gremium“. Die UN-Charta ist ein Dokument, kein Gremium.

Im Juni 2019 diagnostizierte sie die Zitteranfälle von Angela Merkel als Auswirkung der Klimaerwärmung: „Auch bei der Bundeskanzlerin wird deutlich, dass dieser Klimasommer gesundheitliche Auswirkungen hat“.

In der WELT sagte sie am 9. August 2019:
„Und solange wir keinen vernünftigen Preis für CO2 haben, wird der Hochofen der Zukunft nicht in Duisburg, Salzgitter oder Eisenhüttenstadt gebaut.“ 
Richtig ist: an keinem der Standorte werden überhaupt Hochöfen gebaut.

Bei Markus Lanz schrieb sie die Geschichte Thüringens um:
„Da standen wir kurz davor, dass ein Nazi, dass jemand, der nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht, in einem unserer Bundesländer zum Ministerpräsidenten gewählt wird.“ Nicht kurz davor, sondern tatsächlich zum Ministerpräsidenten gewählt wurde im Februar 2020 bekanntlich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich. Die Argumentation, warum er ein Nazi sein sollte, blieb Baerbock schuldig. Vielleicht meinte sie den AfD-Politiker Björn Höcke. Aber der stand nicht kurz davor, zum Ministerpräsident gewählt zu werden.

Am 11. März 2021 twitterte Baerbock zum 10. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Fukushima: „Zeit innezuhalten und an die vielen Menschen zu denken, die durch das Unglück zu Schaden gekommen sind oder ihr Leben verloren haben. Es ist beruhigend, dass Deutschland nächstes Jahr aus der Hochrisikotechnologie #Atomkraft aussteigt.“

Durch die Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 verloren nicht viele Menschen das Leben, sondern zum Zeitpunkt des Unglücks niemand. Im Jahr 2018 starb ein früherer Mitarbeiter des Kraftwerks an Krebs. Er gilt als das einzige Fukushima-(Langzeit)-Strahlenopfer.

Die soziale Marktwirtschaft hielt die Politikerin, die immerhin einige Semester Politikwissenschaft studierte, in einer Bundestagsdebatte im Mai 2021 für eine Erfindung der SPD. Und kürzlich sorgte sie sich in einem Tweet um die soziale Gerechtigkeit von Klima-Maßnahmen: „Menschen mit geringem Einkommen verbrauchen meist weniger CO2“.

Menschen verbrauchen überhaupt kein CO2, egal ob arm oder reich. Sie stoßen es aus.

Diese Fehler- und Verwechslungsliste ist natürlich unvollständig. Bisher wurde sie von einer amtslosen Oppositionspolitikerin befüllt, die aber in Zukunft die größte Volkswirtschaft Europas regieren will. In ihren Vorträgen, Interviews und Talkshow-Auftritten wirkt Baerbock fast nie wie eine Person, die sich auf ein Gespräch einlässt, sondern eher wie eine Sprecherin, die abgespeicherte Textbausteine ausstößt, dabei aber deutlich öfter durcheinanderkommt als andere im Politikbetrieb.

Etwas unheimlich wird die Sache, wenn sie keinen Fehler im Detail macht, sondern, was ihr auch öfter passiert, an einem Sachverhalt vorbeispricht. In einem Interview mit RND etwa forderte sie, überall, also auch im Pflegebereich einen Mindestlohn von 12 Euro einzuführen. „Das“, erkennt sie selbst, „kostet natürlich Milliarden“. Zur Lösung des Finanzierungsproblems schlägt sie vor, dann eben die Rücklage der Pflegeversicherung zu verbrennen:
„Wir wollen den Pflegevorsorgefonds auflösen, um das Geld unverzüglich zu nutzen.“
Auf den sanften Hinweis der Interviewerin, diese Rücklage sei eigentlich für die Zeit nach 2030 gedacht, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in die Rente wechseln, und deshalb deutlich weniger Menschen in die Pflegekasse einzahlen, weiß Baerbock Rat: „Wir müssen mehr Menschen in sozialversicherungspflichtige Jobs bringen. Die zahlen dann auch in die Pflegekasse ein.“ Das schlägt man sich mit der Hand vor die Stirn: In Zukunft einfach mehr Menschen in Jobs bringen. Hätte man gleich drauf kommen können. Die Lösungsidee der grünen Parteivorsitzenden erinnert an den Vorschlag der Titanic zu besseren Zeiten: „Hungerproblem gelöst: Einfach mehr spachteln“.

Neben ihren Schwierigkeiten, halbwegs strukturiert zu argumentieren, kommen bei ihr auch öffentliche Momente, die in – um es vorsichtig zu sagen – mindestens den Bereich der Verhaltensauffälligkeit lappen. Als Maybritt Illner ihr das mittlerweile zehntausendmal abgerufene Video eines NDR-Auftritts von ihr und Robert Habeck vorspielte, in dem sie sich mit dem Satz „ich komme eher aus dem Völkerrecht“ etikettiert, nachdem sie den promovierten Philologen Habeck mit „Hühner, Schweine, was haste, Kühe melken“ zum Landei gestempelt hatte, erklärte Baerbock, das sei ja ein „Zusammenschnitt“, und die „Ausgangsfrage“ – also: was unterscheidet die beiden – sei für die Zuschauer gar nicht erkennbar. Tatsächlich kommt genau diese Ausgangsfrage in dem Video vor, dass Illner zeigte. Es handelte sich auch nicht um einen Zusammenschnitt. Baerbock biegt ein Video, das in diesem Moment hunderttausende Zuschauer sehen, einfach kontrafaktisch um.

Gegenüber dpa erklärte sie ihren aufgeplusterten Lebenslauf so:
„Meinen Lebenslauf habe ich knapp und komprimiert veröffentlicht und dabei unwillentlich einen missverständlichen Eindruck erweckt, den ich nicht erwecken wollte“. Knapp und komprimiert wurde ihre Vita erst durch gut ein dutzend Korrekturen, weil immer mehr mürbe Zacken aus ihrer Krone brachen.

Screenprint: plagiatsgutachten.com

Eine Politikerin, die sich nobilitierende Mitgliedschaften erfindet und sich als Doktorandin ausgibt, die sie längst nicht mehr ist, und dann, wenn sie ertappt wurde, behauptet, sie hätte ihre Vita eben knapp und komprimiert halten wollen, leidet mindestens unter einer schwer gestörten Selbstreflektion. Auf jeden Fall fehlen ihr kompetente Berater und Helfer, die sie wenigstens an den schlimmsten Selbstdemontagen hindern .

Apropos Berater und Unterstützer: Die Grünen in Leipzig suchen für den Wahlkampf Helfer, sie bieten für den Job 40 Stunden Arbeit pro Woche und eine Vergütung von 450 Euro, was einem Stundenlohn von 2,81 Euro entspricht.

Die Grünen sind kollektiv das verzogene Blag der wohlmeinenden Medien in Deutschland

Und das führt uns in Zentrum der Frage, wie es überhaupt passieren konnte, dass eine 40jährige Frau mit etwas merkwürdiger Bildungskarriere, ohne bürgerlichen Beruf und ohne Erfahrung in einem öffentlichen Amt, eine Politikerin, die sich ständig verhaspelt, unangenehm narzisstisch wirkt („ich Völkerrechtlerin, du Schweinebauer“), und die, zurückhaltend gesagt, Schwierigkeiten mit der Realitätseinschätzung zu haben scheint, dass eine solche Politikerin als aussichtsreiche Kanzlerkandidatin durch die Medienöffentlichkeit zieht. Baerbocks Position wirkt ein bisschen, als stünde Sammi aus „Curb Your Enthusiasm“ vor 15.000 Menschen in der Hollywood Bowl, um einen Gesangsabend zu geben.

Um jemand dahinzubringen, müssen sich mehrere Handlungsstränge miteinander verbinden. Annalena Baerbock stünde nicht dort, wo sie jetzt kippelnd steht, wenn sie nicht ein wichtiges und hinreichend großes Milieu in Deutschland verkörpern würde, und das nicht nur gut, sondern nahezu perfekt. Sie stellt den Idealtyp der höheren Töchter und Söhne dar, die nie in ihrem Leben ersthafte Konflikte durchzustehen hatten und sich sozial nie nach oben hangeln mussten, weil sie familiär schon ein gehobenes Wohlstandsniveau mitbekommen, denen sich nie ernsthafte Widerstände in den Lebensweg stellten, weswegen sie sich nie wirklich anstrengen mussten, um irgendwo unterzukommen.

Die Kinder dieses Milieus werden von Anfang an mit einem Zaubertrank großgezogen, der tatsächlich ein bisschen wirkt und viele trotz mäßiger Begabung erstaunlich weit trägt, nämlich Lob, Lob und noch einmal Lob. Die Praxis, Kinder schon für ihre Anwesenheit zu loben, zuhause, später in der Schule, und selbst einen Krächzgesang höflichst zu beklatschen, das gilt unausgesprochen als Merkmal dieser besseren Kreise, in denen Scheitern gar nicht vorgesehen ist. In diesen gepflegten Vorstadtsiedlungen kann es durchaus vorkommen, dass jedes dritte Kind nach Meinung seiner Eltern hochbegabt ist. Wer dagegenhält, dass das nur für zwei Prozent eines Jahrgangs gilt, nämlich für die mit einem IQ von über 130, der macht sich ähnlich unbeliebt wie Larry auf der Dinnerparty, der die talentierte Tochter abwürgt.

Die führenden Politiker der Grünen stammen meiste aus diesen besseren Kreisen, ein großer Teil ihrer Wählerschaft auch. Vertreter dieses Milieus finden sich auch noch in zwei anderen Bereichen überdurchschnittlich oft: in den Medien und in den NGOs. Die Wirkung dieses Phänomens potenziert sich dadurch, dass sich hier der gleiche latent narzisstische Typus in einem Selbstbestätigungszirkel aus Partei, Fernsehstudio und Aktivistenorganisation unentwegt selbst begegnet. In diesem Zirkel behandeln die wohlmeinenden Medien die Partei der Grünen insgesamt exakt wie die Eltern aus diesem Milieu ihre Kinder: sie loben, loben und loben nochmals.

Sie bestaunen die Löcher in den Socken des Parteivorsitzenden, wuscheln ihm freundschaftlich durchs Haar, wenn er Unsinn über die Pendlerpauschale und die BaFin erzählt, sie unterbrechen die Kanzlerkandidatin nicht, wenn sie etwas über einen beinahe gewählten Faschisten in Thüringen und andere kontrafaktische Dinge erzählt, und vor allem gilt die stillschweigende Verabredung, jede Grundsatzkritik an der Partei als Ganzes zu vermeiden. Die Grünen ähneln folglich einem verzogenen Blag, das sich eigentlich alles erlauben kann, auch und gerade Dissonanzen, an denen Parteien weiter rechts zerbrechen würden.

Die Grünen können sich für eine Obergrenze bei Parteispenden von 20.000 Euro einsetzen und auf der anderen Seite eine der größten Einzelspenden in Deutschland überhaupt von einem deutsch-russischen Fondsmanager in der Höhe von 500.000 Euro und dann noch eine Million von einem Bitcoin-Millionär entgegennehmen, sie können die Abholzung im Hambacher Forst und im Dannenröder Forst im Kabinett mitbeschließen, den Protest dagegen anfeuern und gleichzeitig ungerührt riesige Abholzaktionen für Windkraftanlagen in Gang setzen, sie können sich gegen Antisemitismus einsetzen und gleichzeitig die Autorin Kübra Gümüsay hofieren und einladen, die den islamistischen und antisemitischen Autor Necip Fāzıl Kısakürek als deutsche Schulbuchlektüre vorschlägt, sie kann – als einzige Bundestagspartei – ihrer Führung einen üppigen Bonus für Wahlkampferfolge zahlen und gleichzeitig Wahlkampf-Fußtruppen für einen rumänischen Hungerlohn anheuern. Sie kann Joe Kaeser zu ihrem Parteitag einladen und gleichzeitig mit anderen Linksaußen-Demonstranten unter Hammer-und-Sichel-Fahnen in Berlin auf die Straße gehen, als das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel kippte. Alles ist möglich, und der Tag, an dem ein ARD- oder ZDF-Interviewer Baerbock wegen dieser Praxis, von Linksaußen bis zur Mitte Stimmen abzukassieren, tatsächlich nur ein bisschen in die Mangel nehmen würde, dieser Tag kommt so schnell nicht. Wie auch in einer ARD, deren Moderatorin die Grünen am Wahltag in Sachsen-Anhalt „mit zu den Gewinnern des Abends“ rechnet, weil sie immerhin mit 5,9 Prozent als kleinste Partei in den Landtag rutschten?

Wer das Phänomen des unentwegten Lobs in seiner ganzen Pracht verstehen möchte, muss sich noch einmal in Erinnerung rufen, unter welchem Klatschmarsch diese Medien Baerbock im April auf die Bühne schoben: „Die Frau für alle Fälle“ (SPIEGEL), „Endlich anders“ (Stern), „Erfrischend anders“ (View), „Eine wie keine“ (ZEIT), „Eine, die aus dem Nichts kam“ (Tagesschau), eine Politikerin „mit der Lizenz zum Weltendeutertum“ (Süddeutsche“): Das entspricht exakt der Mutter in dem Curb-Video, die ihre Sammi als unglaublich talentiert anpreist und zum Singen nach vorn schiebt. Dass sich Sammi tatsächlich für eine passable Sängerin hält, ist ihr unter diesen Umständen nicht zu verübeln. Ein einziges Buh kann bei solchen Kindern schon zu einem schweren Trauma mit jahrelangen Therapiesitzungen führen.
Besonders überraschend kommt es nicht, dass in einer Partei, die kollektiv das verzogene Kind der guten deutschen Medien ist, auch eine Politikerin nach oben steigt, die individuell genau diesem Persönlichkeitsmuster entspricht. An ihr fällt das für diesen Typus gar nicht so seltene Vermeidungsverhalten auf: Kein Diplom in Hamburg, für das sie eine Prüfung hätte ablegen müssen, keine zu Ende geführte Promotion, kein offener Vorwahlkampf in der eigenen Partei mit Robert Habeck um die Kanzlerkandidatur. Und bisher spricht alles an ihrem Verhalten und dem ihrer Umgebung dafür, dass sie fest daran glaubte, sich auch den Wahlkampf sparen zu können. Bei etwas aufkommendem Gegenwind über rechte Blogger und Falschinformationen im Netz jammern, die Mädchenkarte zücken, in den Ally-Medien die Kritiker als Frauenfeinde niederkeulen lassen – das, so dachte das Team Annalena bis praktisch gestern, sollte eigentlich reichen.

In seinem Wahlkampf 2016 sagte Donald Trump, er könne jemanden auf der Fifth Avenue erschießen, und würde trotzdem gewählt. Ein ähnliches Gefühl muss sich auch bei Annalena Baerbock eingestellt haben.

Zu dem Narzissmus des mittelmäßigen Bürgerkinds kommt bei den Grünen noch ein zweites Prinzip, das in diesem Milieu auch über tiefe Wurzeln verfügt, und dem der Soziologe Helmut Schelsky schon in den Siebzigern einen Namen gegeben hatte: Die Arbeit tun die anderen. Wenn es so etwas wie eine Die-Arbeit-tun-die anderen-Partei gibt, dann die Grünen. Das gilt zum einen ganz unmittelbar: Warum, wird man sich gedacht haben, teure Wahlkampfberater und Fehlersucher engagieren, wenn die Partei allein mit den öffentlich-rechtlichen Sendern über eine Agentur mit acht Milliarden Euro Budget verfügt? Wozu Fehlersuche im eigenen Team, wenn schon geklärt ist, dass Kritik beispielsweise am Lebenslauf nur von rechten Einzelmännern stammen kann?

Das Motto gilt aber auch im weiteren Sinn, nämlich in dem Grundvertrauen einer Annalena Charlotte Alma Baerbock und anderen, dass Deutschland ruhig seine Atom- und Kohlekraftwerke abwracken kann, und kundige Leute schon dafür sorgen, dass trotzdem genügend Strom fließt. So, wie sie darauf vertrauen, dass jederzeit genügend Steuergeld herangeschafft wird, das verteilt werden kann, trotz immer höherer Energiepreise. Und so, wie sie davon ausgehen, dass sie die Pflegereserve schon jetzt plündern können, und es irgendjemand hinbiegen wird, wenn es ab 2030 deutlich mehr Pflegebedürftige gibt, deutlich weniger Zahler, aber eben keinen Notgroschen mehr.

„Die Arbeit tun die anderen“ ist das heimliche Motto der Metaebenen-Bürgerkinder

Das Milieu der ewig gelobten Metaebenen-Bürgerkinder, die darauf vertrauen, dass die eigentliche Arbeit anderswo stattfindet, dieses Milieu bildet mehr oder weniger die harte Grünen-Wählerschaft in Deutschland. Wer dazu gehört, kreuzt die Grünen auch an, wenn Baerbock Spitzenkandidatin bleibt. Allerdings macht dieses Milieu nicht ein Vierteil der Wahlberechtigten aus. Sollten die Grünen ihren Parteitag vom 11. bis 13. Juni nicht doch noch nutzen, um die Kanzlerkandidatin im allerletztmöglichen Moment gegen Habeck auszutauschen, dann gilt: Der Song ist noch längst nicht vorbei. Er muss noch über viele Strophen gequält werden. Und das Publikum kann die Augen nicht abwenden. Am Ende reicht es höchstwahrscheinlich für ein Ergebnis zwischen 15 und knapp unter 20 Prozent, also für eine Juniorpartnerschaft mit der CDU. Das heißt: Es kommt noch ein ganzes Konzert mit Sammi und einer begeistert mitsingenden Mutti im Hintergrund.

Falls nicht ein Blackout Partyort schlagartig verdunkelt. Denn das Prinzip „Die Arbeit tun die anderen“ reicht zwar weit. Aber irgendwann kommt es unweigerlich an eine Grenze.

Das Schöne daran ist: Dann haben die anderen versagt. Um mit Sammis Mutter zu sprechen: „Du hast unser Geschenk ruiniert.“

Erschienen in Tichys Einblick...


Freitag, 11. Juni 2021

Grüne Dominanz in Sachen Annalena auf Wikipedia...

von Thomas Heck...

Die Kanzlerschaft der Grünen Annalena Baerbock ist vielleicht noch nicht abgesagt, ist aber zumindest für dieses Wahljahr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verschoben. Es war vielleicht eine "Präzisierung" zu viel, wie die Korrektur von Fehlern so eloquent tituliert werden, die dem Wähler unangenehm aufstieß. 




Nun müsste die Demontage der Kanzlerkandidatin Baerbock nun ja auch auf Wikipedia ihren Niederschlag finden, doch das Gegenteil ist der Fall. Weil willfährige grüne Helferlein eine Dominanz im «edit war» erzeugen, was eine ganze Menge über Annalena Baerbocks Eintrag über Wikipedia aussagt und die Deutungshoheit über die Geschehnisse der letzten Woche für sich beanspruchen soll. 

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ist wegen skurriler Aussagen zur Energiespeicherung und frisierten Angaben in ihrem Lebenslauf in die Kritik geraten. Warum konnte man darüber lange nichts bei Wikipedia lesen?

Lange war das Bild makellos, jetzt ist die grüne Kanzlerkandidatin in die Kritik geraten: Annalena Baerbock bei einem Fotoshooting, 20. Mai 2021.



Wer sich auf Wikipedia über die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock informieren will, begegnet einer kompetenten, engagierten und sympathischen Person. Bereits als Kind, so erfährt man etwa, hat sie «an Menschenketten gegen das Wettrüsten und an Anti-Atomkraft-Demos teilgenommen». Nebenbei hatte sie Zeit, in der Leistungssportart «Doppel-Mini-Tramp» dreimal Bronze zu holen. Dazu gibt es zahlreiche Informationen zu Baerbocks politischem Werdegang und ihren politischen Forderungen, etwa nach einer «sozial-ökologischen Marktwirtschaft innerhalb der planetaren Grenzen».

Baerbock glänzt, Laschet «sorgt für Empörung» 

Nur eine Passage passt nicht ganz ins positive Gesamtbild: Sie stammt vom 22. Mai und erwähnt, dass Baerbock der Bundestagsverwaltung Nebeneinkünfte von rund 25 000 Euro zu spät meldete. Doch dieses «blöde Versäumnis» (Baerbock) ändert nichts daran, dass die millionenfach besuchte Online-Enzyklopädie ein fast makelloses Bild der grünen Politikerin zeichnet. Dies ist umso auffälliger, als bei anderen Politikern oft jede umstrittene Aussage und jedes potenziell fragwürdige Gebaren thematisiert wird. 

CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet zum Beispiel muss sich auf Wikipedia vorhalten lassen, er habe ein Honorar für ein Sachbuch zu spät versteuert und als Lehrbeauftragter Prüfungen abenteuerlich benotet. Dazu erfährt man, dass er mit seiner Behauptung, Rumänen und Bulgaren seien für einen Corona-Ausbruch bei Tönnies verantwortlich, «für Empörung» sorgte. Schliesslich gibt es auch inhaltliche Kritik: «Aktivistin» Luisa Neubauer, so weiss Wikipedia, findet Laschets Klimapläne 
«unzureichend».

Annalena Baerbocks Wikipedia-Profilbild (9. Juni 2021)



Im Gegensatz zu Laschet und vielen anderen Spitzenpolitikern gibt es bei Baerbock nicht einmal die sonst üblichen Wikipedia-Rubriken «Kritik» oder «Positionen, Kontroversen und Rezeption». So erfuhr man bis zum 9. Juni nicht, dass sie wegen falscher und irreführender Aussagen zu ihrem Lebenslauf seit Wochen für Diskussionen sorgt. Oder dass sie in einer ARD-Sendung mehrmals sagte, in Batterien stecke «Kobold». Oder dass sie behauptete, «das Netz» fungiere für erneuerbare Energien «als Speicher». 

Eine Oligarchie entscheidet, was richtig ist

Diese Unterschiede zwischen Baerbock und Laschet sind keineswegs zufällig. Denn Wikipedia-Artikel zu umstrittenen Themen und Personen sind das Ergebnis langwieriger Debatten, Streitereien, Änderungen und Löschaktionen, von denen die meisten Wikipedia-Nutzer weder wissen noch etwas mitbekommen. Fachleute sprechen von «edit wars» (Redigierkriegen), die sich Wikipedia-Autoren und Administratoren im Hintergrund liefern. Dokumentiert sind diese «Kriege» auf Diskussionsseiten, wo auch unterschiedliche Versionen und gelöschte Beiträge zu finden sind.

Gemäss einer Wikipedia-Statistik gehörten im vergangenen Monat so unterschiedliche Themen wie «Covid-19-Pandemie», «Israel-Gaza-Konflikt» und «geschlechtergerechte Sprache» zu den umstrittensten Wikipedia-Artikeln im deutschsprachigen Raum. Der Eintrag «Annalena Baerbock» hat es bei den am häufigsten geänderten Artikeln im Mai auf Platz 17 geschafft, noch vor «Bundestagswahl 2021». 

Obwohl bei Wikipedia theoretisch jeder mitschreiben kann, ist dieses System anfällig für ideologisch motivierte Willkür und Doppelstandards, sobald es politisch wird (allerdings kann selbst ein harmloses Thema wie «Sylt» einen «edit war» auslösen).

Der Wikipedia-Co-Gründer Larry Sanger drückte es in einem Interview so aus: «Es gibt heute eine allgemeine Tendenz zur Ideologisierung. Das betrifft die öffentliche Meinung, den Journalismus – und Wikipedia.» Hier versuche eine rechthaberische Oligarchie von sogenannten Experten, den Leuten vorzuschreiben, «was wichtig und richtig» sei.

Unter Baerbockologen

Was Sanger damit meint, lässt sich anhand des Baerbock-Eintrags gut nachvollziehen. Die Diskussionen über das, was auf Wikipedia über die Grüne zu lesen sein soll, umfassen ganze 37 Druckseiten (Stand 9. Juni). Dabei zeigt sich, dass sich einzelne Nutzer durchaus eine ausgewogenere, kritischere Darstellung wünschen. «Was soll das?», so fragte sich jemand bereits Anfang Februar, «bei rechten Politikern steht jeder kleine Fehler drin, und bei Annalena Baerbock darf nicht mal ein Absatz zur Kritik stehen?»

Wie selbstherrlich manche Wikipedia-User zu Werke gehen, zeigt ein Vorfall vom 19. Mai. Damals fügte ein Benutzer um 16.43 Uhr die Information ein, wonach Baerbock ihre Nebeneinkünfte von mehreren zehntausend Euro viel zu spät gemeldet habe. Nur wenige Minuten später, um 16.55 Uhr, entfernte ein anderer Nutzer diese Neuerung wieder. Begründung: «Wikipedia ist kein Newsticker.» Am 22. Mai wurde die Information dann doch wieder eingefügt.

Batterien mit Kobold, Netz als Speicher: «nicht relevant»

Dies im Gegensatz zum «Kobold»-Lapsus, den Wikipedia-Benutzer mit allen möglichen Begründungen von «ihrer» Enzyklopädie fernhalten. «Kurios, aber belanglos und deshalb irrelevant», so lautet ein Verdikt auf der Diskussionsseite. Ein anderer Nutzer mutmasst, Baerbock habe das Wort möglicherweise auf Englisch im Ohr gehabt, weil «das a in cobalt wird wie ein langes offenes o gesprochen (etwa so: kouborlt)».

Mit ähnlichen Argumenten werden auch Baerbocks abenteuerliche Behauptungen wegdiskutiert, wonach erneuerbare Energien «im Netz» gespeichert würden. Das Originalzitat lautete so: «An Tagen wie diesen, wo es grau ist, da haben wir natürlich viel weniger erneuerbare Energien. Deswegen haben wir Speicher. Deswegen fungiert das Netz als Speicher. Und das ist alles ausgerechnet.» Diese Formulierung, so schreibt ein Wikipedia-Nutzer, sei zweifellos etwas unglücklich, aber: «Ich verstehe das so, dass nicht der heutige Zustand, sondern ein zukünftig möglicher mit Speicherung im Netz gemeint ist.» 

Gab es einst Kremologen, um sowjetische Propaganda zu interpretieren, scheint es auf Wikipedia Baerbockologen zu geben – die im Zweifelsfall zugunsten ihres Studienobjektes urteilen. Prinzip Filibuster in Wikipedia-Debatten

Derartige Nachsicht kann Annalena Baerbock ausserhalb der Wikipedia-Welt nicht einmal mehr von zugewandten Kreisen erwarten. So schrieb die linke «TAZ» kürzlich, das Hin und Her um Baerbocks Lebenslauf sei «hochgradig unprofessionell». Tatsächlich kamen in den letzten Tagen und Wochen immer mehr Ungenauigkeiten und Falschangaben ans Licht. Unter anderem mussten die Grünen präzisieren, dass ihre Kandidatin ein Politologiestudium in Hamburg nicht abgeschlossen hat und dass sie nicht Mitglied des Flüchtlingshilfswerks UNHCR ist. 

Die Kindheit «auf dem Bauernhof» entpuppte sich kürzlich als Kindheit in einem sanierten ehemaligen Bauernhaus. Dazu gab es zahlreiche mediale Diskussionen über die Frage, ob es nicht ein wenig anmassend war, dass sich Baerbock offensiv als «Völkerrechtlerin» und «aus dem Völkerrecht» kommende Politikerin inszeniert hat. Zumal sie zwar ein Studium in London abgeschlossen, aber ein Promotionsvorhaben abgebrochen hat. 

Diese Diskussionen blieben im Wikipedia-Universum natürlich nicht unbemerkt. Allein seit dem 10. Mai, als die Lebenslauf-Diskussion von einem Plagiatsjäger lanciert wurde, vermerkt die Wikipedia-Seite 259 Änderungen, die oft nur kurze Zeit online waren, weil sie andere Nutzer wieder entfernten (bei Laschet waren es im selben Zeitraum nur 38). Obwohl Baerbocks Lebenslauf auch bei Wikipedia in einigen Punkten modifiziert worden ist, las man in ihrem Artikel fast einen Monat lang nichts über die damit verbundenen öffentlichen Kontroversen.

Erst am 9. Juni fügt ein Nutzer folgenden Satz ein: «Im Zuge ihrer Kanzlerkandidatur und diesbezüglicher journalistischer Recherchen sah sich Baerbock zu mehreren Korrekturen bei der Online-Präsentation ihres Lebenslaufs veranlasst.» Dadurch sei sie «bei zahlreichen Medien» in die Kritik geraten. Ob und wie lange dieser Satz stehen bleiben wird, ist offen. Denn jene Nutzer, die Baerbock gerne in Schutz nehmen, haben bis heute die Deutungshoheit. 

Kein «Kritik»-Kapitel bei Wikipedia

Das zeigt die Diskussion über die Frage, ob Annalena Baerbock wie andere Politiker einen separaten «Kritik»-Abschnitt erhalten soll. Obwohl es seit August 2019 entsprechende Vorschläge gibt, haben die Fürsprecher der grünen Politikerin bisher fast alles verhindert. Dies unter anderem mit dem Argument, darüber müsse erst ein «Konsens» gefunden werden. Gleichzeitig versuchen sie, einen solchen Konsens mit langwierigen, sophistischen Debatten zu verhindern.

Dieses Verhaltensmuster erinnert wohl nicht zufällig an das Filibuster-Prinzip – eine aus den USA bekannte Taktik, die darauf abzielt, den politischen Gegner im Parlament mit endlosen Redebeiträgen am Reden zu hindern und zu zermürben. Oder, wie es ein in die Minderheit versetzter Wikipedia-Autor in Zusammenhang mit Baerbocks nicht gemeldeten Parteibeiträgen einmal ausdrückte: «Es geht breit durch die Presse, nur hier wartet man, bis keiner mehr davon redet.» 

Anmerkung der Redaktion

Kurz nachdem dieser Artikel publiziert wurde, entbrannte auf Wikipedia eine Diskussion darüber, ob die Kritik der NZZ gerechtfertigt sei. «Es ist schon langsam peinlich, dass die breit besprochene Kritik an Baerbock sich nicht in einer Rubrik im Artikel wiederfindet», schreibt ein Benutzer. Ein anderer Autor sieht es so: «Ich denke, wir sollten uns nicht von Medien wie der NZZ unter Druck setzen lassen, wenn sie nun darüber berichtet, wie der Artikel bearbeitet wird.» Ein weiterer findet, dass Berichte über die nachgemeldeten Nebeneinkünfte von Baerbock ein «Rascheln im Blätterwald» seien, die in einer Enzyklopädie nichts zu suchen hätten. Um 12:40 Uhr wurde der Wikipedia-Artikel dann für drei Tage vollständig gesperrt. Bis zum 13. Juni können ihn jetzt nur noch Administratoren bearbeiten.