von Thomas Heck...
Die moralische Verkommenheit einer Gesellschaft macht sich auch im Umgang mit der Trauer fest. Wenn eine Mahnwache für einen mörderischen Hund initiiert wird, sagt das eine ganze Menge aus. Und wenig gutes... wenn die Einschläferung eines offensichtlich gefährlichen Hundes mehr Erregung hervorruft, als die täglichen Messerattacken in unseren Straßen. Wenn dann auch noch der Schwulenhasser und Kriegsverbrecher Che Guevara hervorgezerrt wird, gilt es eigentlich in Deckung zu gehen. Nicht so der SPIEGEL, der diese mediale Ereignis verbreitete. Brutal investigativ...
Guillermo Schwiete zieht noch einmal an seiner Zigarette, dann stapft er vor die verschlossenen Türen des Veterinäramts Hannover, greift zum Mikrofon und lässt seiner Wut freien Lauf. "Die Zeit des Redens ist vorbei", ruft Schwiete, "wir fordern den Rücktritt aller Beteiligten." Die Menschen klatschen, Schwiete reckt den Arm hoch und brüllt: "Für uns ist Chico unser Held, unser Freiheitskämpfer, unser Chico Guevara." Schließlich dreht er sich um und spuckt auf den Boden vor dem Amt. Wieder Beifall, eine junge Frau sagt: "Das tut so gut, das rauszulassen."
Schwiete hat die "Mahnwache für Chico" angemeldet, rund 80 Menschen sind gekommen und gedenken des eingeschläferten Staffordshire-Terrier-Mixes an diesem sonnigen Nachmittag in Hannover. Es ist der vorerst letzte Akt eines bemerkenswerten Dramas.
Am 4. April tötete Chico seinen 27-jährigen Halter und dessen 52-jährige Mutter, die im Rollstuhl saß. Der Fall sorgte bundesweit für Schlagzeilen, einerseits wegen der Versäumnisse der Stadt Hannover - andererseits wegen der Solidarität mit Chico. Knapp 300.000 Menschen unterzeichneten eine Onlinepetition und forderten: "Lasst Chico leben!" Ihre Forderung blieb unerhört, Chico wurde eingeschläfert. "Chico - Ermordet am 16.04." steht auf einem der Plakate vor dem Veterinäramt.
Was bewegt die Leute, die Kerzen anzünden für einen Hund, der zwei Menschen getötet hat?
"Wir wollen dem Hund die letzte Ehre erweisen", sagt Sebastian Glaubitz. "Und natürlich den beiden Verstorbenen." Glaubitz ist ein stämmiger Mann mit vielen Tattoos, auf seinem T-Shirt prangt ein "#freechico"-Schriftzug. Schwiete hat die Mahnwache angemeldet, Glaubitz hat sie organisiert. Die Kritik an ihrem Engagement können die Organisatoren nicht nachvollziehen. "Kein Mensch hier würde sagen, die Kinder in Afrika interessieren uns nicht", sagt Schwiete. "Wir haben genug Empathie, aber wir können doch nicht für alle etwas tun."
Sebastian Glaubitz fühlt sich von der Stadt Hannover getäuscht. Zwischenzeitlich hatten die Behörden erwogen, Chico doch nicht einzuschläfern, sondern ihn in eine Spezialeinrichtung zu bringen, etwa auf einen Gnadenhof. "Das Volk", sagt Glaubitz, sei damit bloß ruhiggestellt worden. Die Einschläferung kam für ihn überraschend. "Das war von vornherein geplant."
Wie Glaubitz denken viele auf der Mahnwache, das Misstrauen gegenüber den Behörden ist riesig, die Menschen fühlen sich übergangen. "Das Veterinäramt hat geschlampt", sagt Sonja Schmidt, sie ist mit ihrem Ehemann aus Osnabrück angereist und trägt ein weißes T-Shirt, darauf ein Regenbogen und die Aufschrift "Ruhe in Frieden Chico". "Der Hund ist nicht schuld", sagt sie, "der ist erst von Menschenhand so geworden."
Schmidt hat vermutlich recht. Bereits 2011 hätte das Veterinäramt Hannover Chico aus der Familie nehmen müssen. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Unbekannt wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung. Damals waren Hinweise bei der Stadt eingegangen: Der Hund sei aggressiv, der Sohn als Halter ungeeignet. Offenbar lebte Chico in einem Metallkäfig und wurde nur selten ausgeführt.
"Wie der leben musste, ich könnte heulen", sagt Ilona Wortmeier-Arndt, eine hagere Frau mit kurzen grauen Haaren. "Ein Martyrium." Sie stelle die Tiere nicht über die Menschen, aber auf die gleiche Stufe. "Chico hätte in erfahrene Hände gemusst, den hätte ich auch nicht erziehen können", sagt die 62-Jährige. "Aber es hätte genug Möglichkeiten gegeben."
Die Verantwortlichen bei der Stadt Hannover sahen das offenbar anders: Der Hund könne nur in Isolation leben, hieß es. Zudem habe er schwere Verletzungen am Kiefer, die zahlreiche Operationen erforderten. "Unter Betrachtung der Gesamtsituation" sei daher die Entscheidung zur Einschläferung gefallen.
Die Protestierer sind sich einig: Es hätte Alternativen gegeben, zahlreiche Menschen hätten Chico aufgenommen, das Geld für die Operationen wäre durch Spenden zusammengekommen. Die offizielle Version nehmen einige Mahnwachenteilnehmer der Stadt nicht ab. "Das ist eindeutig Mord gewesen", sagt Andrea N., sie hat gerade das Schild eines kleinen Mädchens fotografiert, das in Begleitung zweier Männer gekommen ist: "R.I.P. Chico - Ermordet von Medien, Politik und Inkompetenz".
An dem Hergang des Vorfalls hat die 50-Jährige ebenfalls Zweifel, und auch damit ist sie an diesem Nachmittag nicht allein: "Ich sage, der Hund war's nicht." Auf Bildern habe sie kein Blut an der Schnauze gesehen und keines am Fell. Offenbar kursieren auch im Internet Verschwörungstheorien zu dem Fall, die Polizei Hannover warnte am Freitag auf Twitter vor "Behauptungen rund um den Fall Chico".
Und nun? Sebastian Glaubitz sitzt nach der Mahnwache auf einer Stufe vor dem Veterinäramt und schnauft durch. Er wolle bei Facebook aktiv bleiben, vielleicht folge auch noch die eine oder andere Mahnwache, sagt er. "Bis die Verantwortlichen vor Gericht stehen."
Wir gehen zur Tagesordnung über. Die Töle ist tot.