Vor 30 Jahren wurde Ex-SED-Chef Erich Honecker aus der Haft entlassen. Sein damaliger Richter erhebt jetzt schwere Vorwürfe gegen die Berliner Justiz.
Von Hubertus Knabe
Glück muss man haben – und wohlwollende Unterstützer in der Berliner Justiz. Erich Honecker hatte beides, denn der langjährige Staats- und Parteichef der DDR wurde für seine Taten als kommunistischer Diktator nie bestraft. Vor dreißig Jahren, am 13. Januar 1993, wurde er vielmehr überraschend aus der Haft entlassen und setzte sich nach Chile ab. Sein damaliger Richter hat jetzt scharfe Kritik an den Umständen der Freilassung geübt.
Honecker galt damals als wichtigster noch lebender Exponent der SED-Diktatur. Er hatte nicht nur den Mauerbau organisiert, sondern auch dafür gesorgt, dass an der innerdeutschen Grenze auf Flüchtlinge scharf geschossen wurde. An den Grenzzäunen ließ er über 70.000 Selbstschussanlagen montieren, die Menschen bei Berührung mit Stahlsplittern regelrecht zerfetzten. Als ZK-Sekretär für Sicherheit und später Generalsekretär der SED hatte er zudem Zehntausende Ostdeutsche aus nichtigem Anlass inhaftieren lassen.
Strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn begannen bereits im November 1989. Der Generalstaatsanwalt der DDR warf ihm vor, dass er „seine Verfügungsbefugnisse als Generalsekretär des ZK der SED zum Vermögensvorteil für sich und andere missbraucht“ habe. Im Januar 1990 wurde er deshalb verhaftet, zwei Tage später aber aus gesundheitlichen Gründen wieder freigelassen. Es folgte ein mehrjähriges Katz- und Mausspiel mit der Berliner Justiz, das Honecker am Ende für sich entschied.
Flucht zu den Sowjets
Um dem Volkszorn zu entgehen, suchte er zunächst Unterschlupf bei einem Pastor, der in der DDR für besondere Leistungen beim Aufbau des Sozialismus ausgezeichnet worden war. Als sich dann die Wiedervereinigung abzeichnete, flüchtete er im April 1990 in eine sowjetische Kaserne in Beelitz. Dort erlebte Honecker den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, wodurch für ihn die Staatsanwaltschaft II des Landes Berlin zuständig wurde. Bereits im November erwirkte diese einen Haftbefehl – doch niemand wagte sich, ihn auf dem sowjetischen Militärgelände festzunehmen.
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Im März 1991, zwei Tage vor der Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages, ließ sich Honecker plötzlich nach Moskau ausfliegen. Der Vertrag sah unter anderem den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland vor. Die Bundesregierung beschränkte sich auf einen förmlichen Protest, obwohl Moskau sie im Vorfeld über die geplante Flucht informiert hatte.
Erst nach der Ratifizierung pochte Deutschland auf Honeckers Auslieferung. Im Dezember 1991 erreichte sie schließlich, dass der russische Präsident Boris Jelzin ihn ultimativ aufforderte, Russland zu verlassen. Doch der flüchtete stattdessen in die chilenische Botschaft. Erst nach monatelangen Verhandlungen wurde er im Juli 1992 an Deutschland überstellt.
Einer Strafverfolgung stand nun eigentlich nichts mehr im Wege. Die Anklageschrift war bereits seit Mai 1992 fertig. Fluchtgefahr bestand nicht, da sich Honecker in Untersuchungshaft befand. Ärzte erklärten ihn für haft- und verhandlungsfähig. Im November begann deshalb die Hauptverhandlung vor dem Berliner Landgericht. Zusätzlich wurde Anklage wegen Untreue erhoben.
Die Staatsanwaltschaft warf Honecker mehrfachen Totschlag vor. In einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates hatte er unter anderem angeordnet: „Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.“
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Vor Gericht stilisierte sich Honecker jedoch als Opfer der Klassenjustiz, die seit 190 Jahren gegen Kommunisten vorgehe. Mit erhobener Faust begrüßte er die ehemaligen DDR-Funktionäre, die zu seiner Unterstützung im Gerichtssaal erschienen waren. In einer mit Anschuldigungen gespickten Erklärung behauptete er, niemand aus den alten Bundesländern habe das Recht, ihn anzuklagen oder gar zu verurteilen. Den Vorwurf des Totschlags bezeichnete er als „offensichtlich unbegründet“. Eine Verteidigung erübrige sich schon deshalb, weil er das Urteil nicht mehr erleben werde.
Überraschende Freilassung
Honecker spielte damit auf seine unheilbare Krebserkrankung an, die Ärzte bei ihm diagnostiziert hatten. Seine Anwälte nahmen sie zum Anlass, die Einstellung des Verfahrens zu verlangen. Wegen des absehbaren Todes verletze es seine Menschenwürde. Da dies laut Strafprozessrecht kein Einstellungsgrund ist, wurde der Antrag abgelehnt. Doch am 12. Januar 1993 gab das Berliner Verfassungsgericht Honeckers Anwälten überraschend recht.
Die Entscheidung führte in Berlin zu hektischen Aktivitäten. Noch am selben Tag stellte das Landgericht das Verfahren ein. Am nächsten Tag wurde auch das Verfahren wegen Untreue beendet. Beschwerden der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger wurden bereits am Mittag zurückgewiesen. Eine Limousine brachte den Angeklagten anschließend unter Polizeischutz zum Flughafen Tegel. Obwohl das Kammergericht die Einstellung wieder aufhob, hinderte niemand Honecker daran, das Flugzeug nach Frankfurt zu besteigen, von wo aus er weiter nach Chile flog.
Hansgeorg Bräutigam, der den Prozess gegen den ehemaligen Staatschef der DDR führte, hat jetzt massive Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Freilassung geäußert. In einem Brief an die FAZ schrieb er, dass das Verfassungsgericht „in völliger Verkennung der Rechtslage eine nicht zu begründende eigene Zuständigkeit“ angenommen habe. Honeckers begrenzte Lebenserwartung sei zudem „kein Prozesshindernis, sondern ein Strafzumessungsgrund“ gewesen, hätte sich also nur strafmildernd auswirken dürfen.
Bereits kurz nach Honeckers Freilassung hatten führende Juristen diese als rechtsfehlerhaft bezeichnet. „Sind Berliner Gerichte manchmal Bundesgerichte?“ fragte etwa der Strafrechtler Dieter Meurer, um anschließend festzustellen: „Der Berliner Verfassungsgerichtshof war nicht zuständig, seine Kassationsentscheidung deshalb unzulässig.“ Weder das Landgericht noch das Kammergericht seien darum daran gebunden gewesen. Ähnlich kritisch äußerte sich der Verwaltungsrechtler Christian Starck, der daraufhin wies, dass die Berliner Verfassung gar keinen Hinweis auf die Menschenwürde enthalte. Dem Verfassungsgerichtshof hielt er vor: „Es schafft praktisch einen neuen absoluten Haftaufhebungsgrund.“
In seinem Brief weist Bräutigam noch auf weitere Aspekte hin. Sie deuten darauf hin, dass die Berliner Justiz – für die damals die SPD-Senatorin Jutta Limbach zuständig war – Honecker so schnell wie möglich los werden wollte. So habe das Landgericht den Haftbefehl „abends außerhalb der Hauptverhandlung“ aufgehoben. Nach der Aufhebung des Einstellungsbeschlusses habe das Kammergericht Honecker nicht erneut verhaften lassen, „obwohl die Fluchtgefahr mehr als konkret und akut war.“ Die Staatsanwaltschaft habe seinen Verteidigern lediglich mitgeteilt, dass er sich am nächsten Tag der Hauptverhandlung stellen müsse.
Eine wichtige Rolle spielte Bräutigam zufolge auch der leitende Arzt des Berliner Haftkrankenhauses, Dr. Rainer Rex. Dieser habe Anfang 1993 plötzlich ein Gutachten vorgelegt, demzufolge Honeckers Gesundheit durch die Haft schwer beeinträchtigt würde. Das Landgericht habe daraufhin eine erneute Untersuchung angeordnet, über die am 14. Januar verhandelt werden sollte – doch da war der ehemalige SED-Chef bereits in Chile. Derselbe Arzt hätte ihm zuvor noch die Flugfähigkeit attestiert.
Die Behauptung, Honecker werde sein Urteil nicht mehr erleben, stellte sich am Ende als falsch heraus. Der Prozess gegen seine Mitangeklagten endete am 16. September 1993. Der ehemalige Staatschef der DDR starb am 29. Mai 1994.
Erschienen auf hubertus-knabe.de ...
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