Der atemraubende Blockbuster über den großen „Fleischwolf“ Erster Weltkrieg von Regisseur Edward Berger, der im Vorfeld der Academy Awards neunmal nominiert wurde, wurde auf Netflix erstaunlich viel gestreamt. Im ersten Monat allein mehr als 100 Millionen Stunden abgespielt, landete er in 91 Ländern in den Top 10. Und im Kino lief der Film natürlich auch.
Damit der Film bei den Oscars so erfolgreich wie möglich ist, und für Netflix erstmals den Oscar für den besten Film holt, hat der Streamingdienst in den vergangenen Monaten keine Mühen und Kosten gescheut. Und den Film mit Millionen Dollar beworben. Netflix, das haben Analysen gezeigt, gibt für die Promotion seiner Großprojekte viel mehr Geld aus als Produktionsfirmen früher. Allein in die Promotion von „Roma“ steckte man mehr als 25 Millionen Dollar.
Doch das viele Geld, das in Promotion und Werbung investiert wurde, macht aus dem Antikriegsfilm noch keinen guten Film, ganz im Gegenteil. Denn bei dem Film handelt es sich weder um eine ernstzunehmende Adaption von Erich Maria Remarques Buchvorlage, sondern um eine wenig authentische und historisch schlampige Produktion, die klischeehaft wirkt. Gerade in Zeiten, wo in Europa wieder Krieg herrscht, ist das nicht nur schlecht, sondern auch noch gefährlich.
Zugegeben, der Film ist handwerklich gut gemacht. Vor allem die Anfangsszene, in der die Uniformen toter Soldaten unter beeindruckender Sound-Kulisse als große blutverschmierte Bündel in die Heimat geschickt, gewaschen, geflickt und an neue blutjunge Rekruten ausgeteilt werden, zeigt eindrucksvoll die tödliche und menschenfeindliche Maschinerie des Weltkrieges. Auch die schlammigen Schützengräben, und das Leid der Soldaten ist teilweise treffend dargestellt.
Allerdings strotzt der Film vor Darstellungen, die so der historischen Wirklichkeit, die Geschichtswissenschaftler seit mehr als 100 Jahren erforschen, nur an wenigen Stellen gerecht wird. Da sind nicht nur die militärischen Ungenauigkeiten, wie der übermäßige Einsatz von Flammenwerfern im offenen Gelände und Panzern, die im Film eher an die Gefechte der Starship Troopers erinnern, als an einen großen Weltkrieg, der mehr als vier Jahre auf einem ganzen Kontinent tobte.
Für viele vor allem junge Zuschauer mag das ein großes unterhaltsames Spektakel sein. Und auch für amerikanische Zuschauer wird hier das alte in zwei Weltkriegen gefestigte Klischee der deutschen Kriegslust spektakulär bestätigt. Kann man im Verhalten der bösartigen Truppenoffiziere nicht schon die Vorboten des Nazi-Regimes erahnen?
So einfach funktioniert Geschichte allerdings nicht. Historiker überzeugt dieses Kinospektakel daher wenig. In einem MDR-Interview etwa kritisierte der bekannte Militärhistoriker Sönke Neitzel dieses schiefe Bild.
Für den Historiker sind die Kampfszenen teilweise zwar näher an der Wirklichkeit – das heißt realistischer – als in den gleichnamigen Filmen von 1930 und 1979, dennoch konnte er erheblichen „Unsinn“ in der Neuverfilmung entlarven. Der wohl weitreichendste Fehler ist sicherlich die Erfindung des grausamen, kaisertreuen und bösartigen „General Friedrich“.
Dieser General, mit Glatze, riesiger Deutscher Dogge als Wachhund und streng frisiertem Schnurrbart (gespielt von Devid Striesow) verkörpert im Film als eine Art Mischung aus Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff den Archetyp des blutrünstigen deutschen Soldaten, der sich lieber opfert als zu kapitulieren und immer neue Jahrgänge blutjunger Männer rücksichtslos und ohne Empathie in aussichtslosen Kämpfen opfert.
Ein Teufel ohne doppelten Boden, der nicht nur seine Hunde mit rohem Fleischbatzen füttert und so schlechte Tischmanieren hat, dass er französischen Rotwein achtlos auf den alten Holzdielen eines besetzten französischen Schlosses verschüttet, das ihm und seinem Stab als Hauptquartier dient. Das er im Film allerdings nur bei Kerzenschein allein mit seinem treu ergebenen Adjutanten zu bewohnen scheint.
Dem alles egal ist und der nur an seinen eigenen pervertierten Ruhm denkt, ohne je selbst im Schützengraben seine Männer anzuführen. Im Film wird ganz selbstverständlich erzählt wie dieser „General Friedrich“, erschüttert vom gerade durch eine Delegation um den Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger in einem Eisenbahnwaggon ausgehandelten Waffenstillstand von Compiègne, seine Männer in einen letzten sinnlosen Sturmangriff opfert.
Nur um noch vor Eintreten des Waffenstillstands am 11. November um 11 Uhr morgens noch eine unbedeutende zusammengeschossene Ortschaft in der Champagne zu erobern. Dieses Detail des Films mag sich in die Storyline passend einfügen, doch gibt es dafür keinerlei historisches Vorbild, sagt auch der Historiker Neitzel. Und schlimmer noch: Im Film meutern einige hundert Soldaten gar auf dem Vorplatz des Schlosses gegen die Befehle des Generals und werden von Feldpolizisten der kaiserlichen Armee an Ort und Stelle als Deserteure mit kalter Hand erschossen.
Der Regisseur habe hier den Ersten mit dem Zweiten Weltkrieg einfach verwechselt, urteilt Neitzel: „Wir wissen, dass im Ersten Weltkrieg nur 48 deutsche Soldaten exekutiert worden sind, im Zweiten Weltkrieg 20.000. Das heißt, im Ersten Weltkrieg hätte es so etwas nicht gegeben.“ Ja, Krieg ist immer grausam, das zeigen auch die entsetzlichen russischen Greul im Frühjahr 2022 in Butscha. Das Problem ist nur, man sollte schon bei der Wahrheit bleiben.
Zumal auch Dank der Erkenntnisse von vielen Historikern, darunter vor allem des großen australischen Geschichtswissenschaftlers Christopher Clark („Die Schlafwandler“), inzwischen die, vor allem in den Verträgen von Versailles zementierte, deutsche Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs widerlegt ist. Die These vom blutrünstigen Kaiser Wilhelm II., der zusammen mit dem greisen Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn allein den Weltkrieg vom Zaun bricht, ist so schon nicht mehr haltbar.
Vielmehr - das kann man in der großartigen Netflix-Doku „The Long Road to War“ anschauen - führten die geopolitischen Kraftverhältnisse, Allianzen und die Konkurrenz um Rohstoffe und wirtschaftliche Dominanz unter den Großmächten Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Österreich und Russland die Nationen beinahe zu gleichen Teilen in die Katastrophe des Weltkrieges.
Ja, es hat die deutschen Pläne um einen Präventivschlag gegen Frankreich (Schlieffen-Plan) gegeben, bei dessen Ausführung 1914 in die zunächst unbeteiligten Länder Belgien und Luxemburg einmarschiert wurde. Und ja, es hat auch toxischen Militarismus und Großmannssucht im Deutschen Reich gegeben, aber ähnlich gelagerte Ressentiments und Ideologien hat es in den anderen großen Nationen Europas auch gegeben. Und da ist der Film leider einfach nicht up to date.
Es gibt zwar die Person des unnachgiebigen französischen Genereals Foch, der in seiner babyblauen Cord-Uniform noch 72 Stunden verstreichen lässt, ehe er das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Nur um sich beim Verhandlungspartner Respekt zu verschaffen und die Deutschen noch ein bisschen mehr zu quälen, während an den Fronten weiter die Männer fallen.
Aber, die Franzosen werden – abgesehen von dem grausamen Einsatz von Flammenwerfen gegen sich ergebende Soldaten – als die freundlichere Armee dargestellt, die nicht um diesen Krieg gebeten hat. Mit vollen Speisekammern voller Honig, Wurst und Cognac-Flaschen, während die deutschen Soldaten drüben in den Schützengräben nur Steckrüben fressen und arme Bauern überfallen.
Und nicht nur das. Anders als die Deutschen werden die Franzosen als divers und progressiv dargestellt. Denn auf einmal tauchen schwarze Soldaten aus Nordafrika auf, die gleichberechtigt mit ihren weißen Kameraden gegen den Feind kämpfen.
Neitzel hält auch das für eine Geschichtsklitterung: „Damit wird eine Diversität vorgegeben, die historisch schlicht falsch ist. Das ist vielleicht ein bisschen en vogue im Moment, aber diese Mischung gab es schlicht und einfach nicht. Die Regimenter mit Marokkanern, Algeriern, Senegalesen sind von französischen weißen Offizieren geführt worden. Ansonsten gab es aber eine klare ‚Rassentrennung‘ in der französischen Armee.“ Die grausame belgische und französische Kolonialherrschaft wird hier ausgeblendet.
Dass in vielen Ländern Europas zu Beginn des Ersten Weltkriegs gleichermaßen eine unbändige Kriegsbegeisterung geherrscht hat, dass in Kriegen Soldaten nicht nur verheizt werden, sondern sich wie auch im Zweiten Weltkrieg freiwillig (darunter teilweise auch von den Nazis verfolgte Kommunisten) zum Fronteinsatz für ihr Land meldeten und dass Wilhelm II. in der Nacht vor der deutschen Kriegserklärung an Frankreich aus Panik im Stadtschloss einen schweren Nervenzusammenbruch erlitt, solche Dinge erzählt der Film leider nicht.
Gerade in heutigen Kriegszeiten, wo Desinformation und Beeinflussung über die Medien wieder als Waffen verwendet werden, ist es so wichtig, sich bei der Darstellung der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ an die historische Wahrheit zu halten. Das darf man besonders von einem deutschen Film und Regisseur erwarten und ist man den Zuschauern schuldig.
Gerade für jüngere Menschen, die in der Schule den Ersten Weltkrieg nur am Rande behandeln. Denn ohne den Ersten sind der Zweite Weltkrieg, das furchtbare Nazi-Regime und am Ende auch mittelbar Putins Kriegs in der Ukraine nicht denkbar.