Sonntag, 6. April 2025

Wie Friedrich Merz die CDU zerstört


Massiver Vertrauensverlust - CDU-Parteichef Friedrich Merz 2024 im Münchner Presseclub



Viele Christdemokraten sind enttäuscht von ihrem Parteivorsitzenden. Statt eines Richtungswechsels gibt es nur ein Weiter so. Im Koalitionsvertrag erwartet sie jetzt eine weitere Zumutung.

von Hubertus Knabe

Friedrich Merz, so scheint es, ist drauf und dran, der letzten Volkspartei den Garaus zu machen. Seit seinem Kurswechsel in der Schuldenfrage und dem 100-Milliarden-Geschenk an die abgewählten Grünen fühlen sich viele CDU-Wähler regelrecht betrogen. In einer aktuellen Umfrage kommt die Union nur noch auf 24 Prozent. Auch immer mehr CDU-Mitglieder erklären ihren Austritt. Und auf die Verbliebenen wartet im neuen Koalitionsvertrag die nächste Zumutung: Laut Entwurf wollen Union und SPD das umstrittene Subventionsprogramm „Demokratie leben!“ weiterführen und sogar ausweiten.

Das Programm, aus dem vornehmliche linke Initiativen „gegen rechts“ unterstützt werden, war von Merz und seiner Fraktion noch vor wenigen Wochen massiv in Frage gestellt worden. Anlass waren deutschlandweite Proteste gegen ihn und seine Partei kurz vor den Bundestagswahlen gewesen. Dabei waren nicht nur zahllose Wahlplakate beschädigt, sondern auch CDU-Geschäftsstellen attackiert worden.

In einer Kleinen Anfrage betonten Merz und seine Fraktion daraufhin, dass sich gemeinnützige Vereine und staatlich finanzierte Organisationen parteipolitisch neutral verhalten müssten. Mit Blick auf die Anti-CDU-Proteste bezweifelten sie, dass diese Vorschrift überall eingehalten würde. „Ein Beispiel ist das Bundesprogramm ‚Demokratie leben!‘, das einige Organisationen finanziell fördert, die an den Demonstrationen beteiligt waren.“

5000 Euro aus dem Kanzleramt – Demonstration der „Omas gegen Rechts“ im Juli 2023 in Magdeburg



Unterstützung wird fortgesetzt

Inzwischen ist von dieser Kritik keine Rede mehr. Statt dessen heißt es im Entwurf des Koalitionsvertrages: „Die Unterstützung von Projekten zur demokratischen Teilhabe durch das Bundesprogramm ‚Demokratie leben!‘ setzen wir fort.“ Und mehr noch: Nach einer unabhängigen Überprüfung des Programms werde man „weitere Maßnahmen für rechtssichere, altersunabhängige Arbeit gegen Extremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ prüfen.

Das unscheinbare Wort „altersunabhängig“ ist dabei von besonderer Bedeutung. Laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages widerspricht das Förderprogramm nämlich der Verfassung. Der Bund sei nur für Fragen zuständig, die nicht durch die Länder geregelt werden könnten. Eine Ausnahme gelte lediglich für die politische Bildung Jugendlicher – doch genau diese Beschränkung wollen Union und SPD nun aufheben.

CDU/CSU kommen damit einem langgehegten Wunsch der SPD nach, auch Erwachsene aus dem Programm zu subventionieren. Um dies zu ermöglichen, hatten SPD und Grüne im März 2023 sogar ein „Demokratieförderungsgesetz“ eingebracht. Die Union stellte sich gegen das Vorhaben, weil, wie es der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries in der Debatte formulierte, das Wohl und Wehe der Demokratie nicht davon abhänge, „politisch erwünschte Weltanschauungen staatlich zu prämieren oder dauerhaft zu finanzieren.“ Jetzt sollen die Pläne Eingang in den Koalitionsvertrag finden.

„Politisch erwünschte Weltanschauungen nicht staatlich prämieren“ – CDU-Politiker Christoph de Vries



Die künftigen Koalitionäre setzen sich damit auch über Einwände des Bundesrechnungshofes hinweg. Mehrfach wies dieser auf die „fehlende Förderkompetenz des Bundes“ bei den Zahlungen hin. Denn die meisten Projekte sind weder von überregionaler Bedeutung noch besteht ein erhebliches Bundesinteresse an ihnen – Kriterien, die eigentlich Voraussetzung für eine Bundesförderung sind. Auch die Vorschrift, nur Projekte für Jugendliche zu fördern, wird regelmäßig missachtet.

Die Union störte sich auch an der politischen Einäugigkeit des Programms. Als Beispiel nannte de Vries die sogenannte Meldestelle für Antifeminismus, die die linkslastige Amadeu Antonio Stiftung betreibt. Aus dem Programm erhielt diese 2,7 Millionen Euro. Mit solchen Maßnahmen werde statt Demokratie politisches Denunziantentum gefördert.

Mittel mehr als vervierfacht

Offenbar planen Union und SPD sogar eine Erhöhung der Ausgaben. Laut Entwurf sind sie „überzeugt, dass wir verstärkt in die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie investieren müssen.“ Dabei wurden die Mittel für das Programm in den letzten Jahren bereits mehr als vervierfacht. So stiegen die Ausgaben seit 2015 von 40,5 auf 182 Millionen Euro pro Jahr. Insgesamt hat der Bund schon mehr als 1,2 Milliarden Euro investiert.

„Förderung politisches Denunziantentums“ – Website der Amadeu Antonio Stiftung



Tatsächlich fließen die meisten Subventionen in Aktivitäten „gegen rechts“ – obwohl die Zahl linker und rechter Extremisten in Deutschland nahezu gleich groß ist. So förderte die Bundesregierung nach eigenen Angaben die Bekämpfung des Linksextremismus 2023 mit 2,3 Millionen Euro. Fast das Zehnfache, nämlich 22,5 Millionen Euro, wandte sie für die Zurückdrängung des Rechtsextremismus auf.

In Wirklichkeit ist das Ungleichgewicht noch deutlich größer. Wie die Bundesregierung erklärte, seien nämlich viele Projekte „phänomenübergreifend“ angelegt, so dass eine thematische Zuordnung der Fördermittel nicht möglich sei. Als Beispiel nannte sie die Partnerschaften für Demokratie und sogenannte Landes-Demokratiezentren, von denen allein Letztere 2023 fast 30 Millionen Euro erhielten. Ein Blick auf deren Internetseiten zeigt jedoch, dass es diesen ebenfalls in erster Linie um Rechtsextremismus geht und nie um Extremismus von links.

Im Ergebnis erhalten Tausende linke Aktivisten Geld aus dem Programm. Dass diese tatsächlich für die Demokratie eintreten, ist dabei keineswegs sicher. Schon 2014 strich die SPD die Vorschrift, dass sich die Zuwendungsempfänger schriftlich zum Grundgesetz bekennen müssen. In der Praxis wird lediglich geprüft, ob ein Antragsteller im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird. Mehr als 1,5 Millionen Euro bekam zum Beispiel die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD), in deren Vorstand damals die Hardcore-Marxistin Bafta Sarbo saß. Wenn es im Entwurf des Koalitionsvertrages heißt, dass die Verfassungstreue der geförderten Projekte „weiterhin“ sichergestellt werde, sanktioniert die CDU das fragwürdige Verfahren noch nachträglich.


Bekenntnis zum Grundgesetz gestrichen – Website der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland



Zahl der Rechtsextremisten fast verdoppelt

Ob dieser Geldsegen den Extremismus zurückdrängt, muss bezweifelt werden. Die Zahl der Rechtsextremisten hat sich seit dem Programmstart nämlich fast verdoppelt. Die AfD kommt sogar auf viermal so hohe Zustimmungswerte. Bei der anvisierten Zielgruppe dürfte das linksalternative Vokabular der geförderten Vereine die Radikalisierung eher noch verstärken.

Bislang hat jedenfalls niemand ernsthaft versucht, die Wirkung des Programms zu überprüfen. Schon 2019 monierte der Bundesrechnungshof, dass „die Förderziele nur sehr allgemein und vage beschrieben werden und so in einer Erfolgskontrolle nicht messbar sind.“ 2022 kritisierte er erneut, dass auf dieser Basis die vorgeschriebene „sachgerechte Zielerreichungskontrolle nicht möglich“ sei. Auch in der neuen Förderrichtlinie vom November 2024 finden sich nur Allgemeinplätze. Die im Entwurf versprochene „unabhängige Überprüfung“ ist eine Illusion, da die in Frage kommenden Institute fast alle am Tropf des Ministeriums hängen.

Sollte die Unionsfraktion nicht noch rebellieren, dürfte also auch Merz‘ Regierung künftig linke Aktivisten mit Millionenbeträgen subventionieren. Die CDU züchtet sich damit den Protest gegen ihre Politik selbst heran. Statt des angekündigten Politikwechsels deutet alles auf ein Weiter so, was die Unzufriedenheit der Mitglieder und der Wähler weiter verstärken dürfte. Merz gefährdet damit nicht nur die Zukunft der CDU, sondern zerstört auch das Vertrauen in die etablierten Parteien, was die Extreme weiter stärken dürfte. Angesichts der Bedrohung durch Russland sind dies keine guten Aussichten für Deutschland.



Mittwoch, 2. April 2025

Herrschaft der Großväter - Die Unmenschlichkeit des Russischen

Russische Soldaten über einem erschossenen Ukrainer.

Als Andrei Sytschow nach seiner Ausbildung zum Autoschlosser 2005 mit 18 eingezogen wurde, war er ein gesunder, junger Mann. Als er ein Jahr später in den Gerichtssaal kam, fehlten ihm beide Beine, die Genitalien und der rechte Ringfinger.
Er war nicht in einem Krieg verwundet worden. Sondern gefoltert. Durch seine Vorgesetzten.

Ständigt werden auf Social Media Videos veröffentlicht, in denen nicht nur ukrainische Gefangene vor laufenden Kameras getötet werden. Sondern in denen auch russische Soldaten gequält werden. Sie werden an Bäume gefesselt, wo sie Tage ausharren müssen. Sie werden geprügelt, wenn sie nach einem Angriff lebend zurückkehren. Sie werden zur Bestrafung in Gruppen in Löcher gepfercht, wo sie mit Essensresten überleben müssen, in ihrem eigenen Kot stehend.
Veröffentlicht von anderen russischen Soldaten.

Mehrere russische Soldaten werden von Russen an Bäume gebunden.

Screenshot: Mehrere russische Rekruten werden an Bäume gebunden.

Häufig werden solche Berichte und Videos als Russland-feindliche Propaganda abgetan. Doch das System ist weit älter als das Russland Putins, sogar älter als die Sowjetunion.
Es sind zu viele Videos. Doch nur wenn man wagt bewusst hinzusehen, erkennt man, dass es keine Einzelfälle sind.

Nach den Veröffentlichungen der Rückeroberung von Butscha Anfang April 2022, während der zivile Tote und gefesselte Erschossene offen auf der Straße gefunden wurden, seit Wochen dort liegend, schrieb ich, dass das kein Massaker war. Ich wurde dafür kritisiert. Weil gar nicht verstanden wurde, dass ich damit lediglich zum Ausdruck bringen wollte, dass das die russische Normalität ist.

Eine in Decken gehüllte, verletzte Schwangere in den Trümmern. Im Hintergrund würd über einem offenen Feuer Wasser erhitzt.

Foto: Anhand einer Auswertung konnte ich zeigen, dass der Angriff auf die Geburtsklinik in Mariupol im März 2022 kein Unfall gewesen sein konnte.

Um das aus europäischer Sicht überhaupt begreifen zu können, muss man die Struktur des russischen Militärs betrachten. Und dann wird man auch viel besser verstehen, was in der Ukraine vor sich geht.

Der Unteroffizier

Es gab immer spezialisierte Soldaten, seit der Antike. Und es gab immer Vorgesetzte, welche die Soldaten unmittelbar führten.
In den römischen Legionen gab es beispielsweise den Decurio und den Centurio, die später aber zu den Offizieren gezählt wurden. Offiziere waren eher Adelige und Reiter, aus ihnen entwickelten sich später die Ritter. Fußtruppen waren die Mannschafter, die normalen Soldaten. Unteroffiziere, das Bindeglied, gab es eher wenige.

Der Krieg wurde immer technischer, die Waffen immer spezieller. Und dafür benötigte man Soldaten, die länger dabei waren und die man entsprechend ausbildete. Diente ein römischer Legionär noch 20 Jahre, gab es in Angelsachsen später die Fyrd, die freien Bauern, die im Krieg eingezogen wurden. Auch im Japan vor der bei Europäern eher bekannten Edo-Zeit war es üblich, Bauern zu rekrutieren. Das kehrte sich mit dem Dreißigjährigen Krieg wieder um.

Aus dieser Entwicklung heraus trennte sich der Weg zwischen dem Zarenreich und der späteren Sowjetunion und dem Westen. Eigentlich bereits im 19. Jahrhundert.
Der Westen setzte immer mehr auf kompliziertere, technisch versiertere Waffen und gut ausgebildete Soldaten. Während Russland dabei bliebt, Waffen zu verwenden und zu produzieren, die jeder nach einer kurzen Einweisung bedienen kann. Das Modell „Kanonenfutter“.

Beispiel Kampfpanzer

Ein Beispiel ist der Leopard II, der in der Version, die in die Ukraine geliefert wurde, etwa 35 Jahre alt ist. Aus unserer Sicht alt, aber für die ukrainischen Soldaten, die über Wochen darauf ausgebildet werden mussten, ein Zeitsprung. Viele berichten freudestrahlend davon, dass sie einen Beschuss überlebt hatten. Im T-72, der zumeist von Russland eingesetzt wird und den auch die Ukraine hat, ist das nicht so.
Das Überleben der Besatzung hat einen niedrigeren Wert. Kampfpanzer sind in Russland eher so etwas wie fahrende Kanonen, die kaum aus der Fahrt schießen können und höchstens vor leichten Beschuss schützen. Die meisten können nicht einmal rückwärtsfahren.

Was man auch daran sehen konnte, dass viele Besatzungen einfach die Luken wegen der fehlenden Belüftung offenließen. Und die Ukraine es perfektionierte, mit Drohnen Granaten hineinfallen zu lassen.
Es gäbe viele solcher Beispiele.

Ein zerstörter russischer Panzer. Das Munitionskarusell unterm Turm ist detoniert, der Turm scheint ausgebrannt aber wenig beschädigt.

Foto: Ein zerstörter russischer Panzer. Das Munitionskarusell unterm Turm ist detoniert, der Turm scheint ausgebrannt aber wenig beschädigt.

Daran wird deutlich, dass Russland auch heute noch auf Masse statt Klasse setzt. Die angekündigten Superwaffen haben sich alle als Rohrkrepierer erwiesen. Geblieben ist eine russische Kriegsführung wie in den 1960ern. Eigentlich eher wie im Ersten Weltkrieg.

Die strukturellen Unterschiede

Das bedeutet also zwangsläufig, dass „der Westen“ gut ausgebildete Soldaten braucht. Davon aber weniger. Die Soldaten sind dem Westen etwas wert. Denn man hat in sie investiert. Weshalb die simple Aufrechnung von Rüstungskosten durch selbstbeschriebene Experten völlig absurd ist.
Spätestens seit Vietnam weiß man, dass es in der Bevölkerung nicht gut ankommt, wenn Soldaten an der Front zu Tieren werden oder in Säcken nach Hause kommen. Wir haben eine Erwartungshaltung.

Daraus ergibt sich eine völlig andere Struktur des Militärs. Um das zu verdeutlichen, vergleiche ich das russische Militär mit der Struktur der Bundeswehr zu Zeiten der Wehrpflicht: Die Struktur, die Hierarchie, ist sehr mit der der zivilen Arbeitswelt zu vergleichen.

Es gibt die „einfachen“ Soldaten, die den Lehrlingen entsprechen. (Ohne Wehrpflicht, also nur mit Profis, verschiebt sich das natürlich etwas.)
Dann gibt es die Unteroffiziere. Und das wären zivil eher so etwas wie die Altgesellen und Meister, bis hin zum Altmeister.
Und dann gibt es die Offiziere. Die unter sich wiederum abgestuft sind, wir vernachlässigen das hier aus Gründen. Das sind die Akademiker. Viele von ihnen haben ein Studium oder studieren bei der Bundeswehr.

Schematischer Vergleich der Dienstgradgruppen „West“ und „Ost“

Foto: Schematischer Vergleich der Dienstgradgruppen „West“ und „Ost“

Russische Offiziere

Wichtig ist, dass in dieser „westlichen“ Struktur nicht jeder mit einem höheren Dienstgrad irgendwem etwas befehlen darf. Ok, versuchen kann er es. Aber ob derjenige das dann macht, ist etwas anderes. Es ist sehr genau geregelt, wer wem wann was befehlen darf.
In Russland darf jeder jemandem mit einem niedrigeren Dienstgrad etwas befehlen.

Parade in Moskau, die Dienstgrade sind auf den Schulterklappen erkennbar.

Foto: Viele „normale“ Soldaten, wenige Unteroffiziere. Die Unterscheidung ist kaum sichtbar, Unteroffiziere marschieren mit den Mannschaften.

Und die russischen Offiziere haben auch kaum studiert. Russland hat im Verhältnis viele Offiziere, die in der Regel auf eine Schule gehen, wo sie einen Abschluss machen. Häufig im elektrotechnischen Bereich. Sie werden dann meist „Ingenieur“ genannt, doch diese Abschlüsse sind im Westen nicht anerkannt. Sie sind eher zu vergleichen mit einer theoretischen Berufsausbildung.

Diese Struktur, diese Verteilung, zusammen mit der Wehrpflicht (zweimal im Jahr Kontingent) führt also dazu, dass Russland sehr wenige Unteroffiziere braucht. Im Grunde nur für die Ausbildung. Und dort regieren sie dann.

Die Stube nicht aufgeräumt

Der Wehrpflichtige Andrei Sytschow hatte den Silvesterabend zum Jahr 2006 mit acht anderen Kameraden auf der Stube gefeiert. Sie alle waren keine Rekruten mehr, sie waren nicht neu.
Nach Mitternacht betraten mehrere betrunkene Unteroffiziere den Raum. Sie sagten, die Stube sei nach dem Umtrunk nicht ordentlich aufgeräumt worden. Sie begannen Sytschow zu schlagen und zu Foltern. Die Tortur dauerte mindestens dreieinhalb Stunden. Unter anderem wurde er auf einem Stuhl hockend in eine so genannte Schmerzhaltung gebracht. Er musste Kniebeugen machen, die Hände auf dem Rücken gefesselt.

Da die medizinische Versorgung der Kaserne zum Jahreswechsel geschlossen war, bekam Sytschow erst am 4. Januar eine ärztliche Versorgung. Zu dem Zeitpunkt waren eines seiner Beine und seine Genitalien bereits nekrotisch, also abgestorben. Es ist der Phantasie überlassen, was mit seinen Genitalien passiert ist. Es wurden mehrere gebrochene Knochen festgestellt.

Ein unbekannter Offizier hatte Sytschows Mutter später „viel“ Geld angeboten, würde er nicht vor Gericht gehen. Er ging vor Gericht. Zu dem Zeitpunkt waren ihm beide Beine, die Genitalien und ein Ringfinger amputiert worden. Ein vor Gericht befragte Militärarzt sagte aus, er könne sich auch eine Blutvergiftung zugezogen haben.

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Foto: Eines der wenigen Fotos von Andrei Sytschow. Mit seiner Mutter, 2007.

Der hauptverantwortliche Alexander Sivyakov, zu dem Zeitpunkt ein 19-jähriger Unteroffizier, wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, wobei ihm drei Jahre der Dienstgrad als Unteroffizier aberkannt wurden. Was bedeutet, er blieb weiter Soldat und konnte mit 24 als Unteroffizier weiter dienen.

Dedowschtschina

Das ist bei Weitem kein Einzelfall. Schläge und Folter werden als legitime erzieherische Maßnahme betrachtet. Offiziell ist das zwar verboten. Aber in der Realität ist es tägliche Praxis.
So, wie sich Realität und Anschein sehr häufig in Russland unterscheiden.

Es gibt sogar ein russisches Wort dafür. Dedowschtschina (дедовщина), das Prinzip der Herrschaft der Großväter. Dedushka ist der Großvater, kurz Ded oder Dedy ist der Opa (дед).
Damit gemeint sind diejenigen, die schon länger dabei sind. Was zu einer Systematisierung führt: Sie werden das an die Jüngeren weitergeben, was sie selber erlebt haben. Ältere Unteroffiziere gibt es sehr wenige. Die Offiziere sind weit weg. Sowohl in den Kasernen, als auch an der Front.

Es ist ein sich selbst erhaltendes System. Diejenigen, die heute gequält werden, sind morgen die Quälenden. Wenn sie so lange durchhalten.

Ein älterer Soldat posiert lächelnd Arm in Arm mit einem jüngeren mit zwei blauen Augen.

Foto: Ein älterer Soldat posiert lächelnd Arm in Arm mit einem jüngeren mit zwei blauen Augen.

Dienstgrad ist Gradmesser der Korruption

Roman Suslow fuhr 2010 in die Kaserne, in der er dienen sollte. Von Omsk aus Richtung chinesischer Grenze, weit weg. Blumen, ein letztes Mal seinen kleinen Sohn halten, Winken am Bahnhof.
Wenige Tage später kam sein Leichnam zurück. Nur grob zusammengenäht, vom Kehlkopf bis zum Penis. Durch eine Obduktion, angeblich. Angeblich hatte er sich erhängt. Die Blutergüsse auf seinem Körper erklärte das nicht.

Nicht nur die Eltern vermuten, dass die Offiziere die Organe verkauft haben. Es wurden auch schon Offiziere dafür verurteilt, Blut ihrer Soldaten verkauft zu haben. Leichname wurden nicht an die Familien übergeben. Und ähnliche organlose Befunde hat es auch in der Ukraine gegeben.

Weit korrupter als die Ukraine es bis zum Euromaidan war, war immer schon Russland. Das wird gerne vergessen oder durch die Propaganda ignoriert.
Eine der „Weltuntergansflugzeuge“ Russlands, eine Ilyushin Il-80, wurde bei Reparaturen 2020 derart geschröpft, dass sie verschrottet werden musste. Offiziere hatte alles verkauft, von Monitoren bis zu Kupferkabeln.
Kaum verwunderlich, wenn russische Soldaten in den ersten Tagen des Überfalls auf die Ukraine dabei gefilmt wurden, wie sie Kühlschränke und Waschmaschinen aus ukrainischen Häusern schleppten und sie auf gestohlene Autos luden.

Der Dienstgrad und die Macht sind ein Gradmesser dafür, was gesellschaftlich akzeptiert ist zu stehlen.
Das Schloss am Kap Idokopas wird üblicherweise als „Putin Datscha“ bezeichnet. Es handelt sich um einen Komplex im italienischen Stil, der von einem Militärbau-Unternehmen für umgerechnet über eine Milliarde Dollar errichtet wurde. Nach russischen Recherchen stammte das Geld aus dem Abzweigen von überteuertem medizinischem Gerät für Krankenhäuser.

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Foto: Putins „Datscha“ während des Baus 2011.

Es ist nicht nur Putin. Wie wir es uns gerne einreden. Es ist ein System, ein Verständnis von Gesellschaft, eine Diktatur.
Die Partei „Einiges Russland“ (Jedinaja Rossija, Единая Россия) regiert Russland seit nun 20 Jahren mit absoluter Mehrheit. Sie stellt sich als patriotische Mitte dar, tatsächlich ist sie mindestens so rechtsaußen wie die AfD. Mindestens.

Der Parteivorsitzende Dmitri Medwedew

Foto: Der Parteivorsitzende Dmitri Medwedew (Putin ist nicht Mitglied der Partei), ehemaliger Präsident, Ministerpräsident und nun Leiter des Sicherheitsrates.

Die Verschwundenen

Jedes Jahr fassen die russischen Streitkräfte etwa 1300 Soldaten zusammen, die „verschwunden“ sind.
Dazu werden Selbstmorde gezählt, aber auch „unerwartet Verstorbene“. Laut offiziellen Angaben begehen etwa 200 Selbstmord. Die USA kommen bei weit mehr aktiven Soldaten (1,4 Millionen) - allesamt Zeitsoldaten - auf höchstens halb so viele. Was sogar unter dem Bevölkerungsschnitt liegt.
Glaubwürdig sind die 200 dennoch nicht.

Screenshot: Russische Soldaten werden in einer Kaserne gezwungen, nackt mit den Händen das Gras zu schneiden.

Screenshot: Russische Soldaten werden in einer Kaserne gezwungen, nackt mit den Händen das Gras zu schneiden.

Nach einem „Streit“ im Februar 2003 erschießt ein Soldat vier andere und danach sich selber.
Im Oktober 2019 schießt ein Wehrdienstleistender auf seine Kameraden und tötet acht von ihnen.
Im November 2020 wurde ein junger Soldat um fünf Uhr morgens von einem Offizier „kontrolliert“. Er griff ein Beil aus einem Brandschutzkasten und schlug es dem Offizier in den Kopf. Anschließend nahm er dessen Pistole und tötete zwei weitere.
Nur wenige bekannt gewordene Fußnoten der Statistik.

Jeder vierte Soldat flüchtig

Derzeit geht man von etwa 40.000 Deserteuren aus. Diese Zahlen stammen von „westlichen“ Analysten. Das ist der Durchschnitt. Das bedeutet nicht, dass jetzt gerade 40.000 unerlaubt abwesend sind – so die deutsche Bezeichnung: UA. Sondern seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine dauerhaft. Egal wie viele gefasst oder andere neu eingezogen werden, 40.000 fehlen.

Gehen wir einmal von der Hochzeit der russischen Truppen kurz vor dem Überfall auf die Ukraine aus: Das waren geschätzt 175.000. Das bedeutet, dass fast jeder vierte Russe, der eigentlich dienen sollte, fahnenflüchtig war. Heute, drei Jahre später, werden es anteilig weit mehr sein. Russland muss inzwischen Söldner aus Nordkorea kaufen und Menschenhandel aus dem Jemen praktizieren, organisiert von den dortigen Huthi.

Ein abgemagerter russischer Soldat wird gezwungen Stromkabel zu halten. Lässt er sie beim Stromschlag vor Schmerz fallen, wird er geschlagen.

Screenshot: Ein abgemagerter russischer Soldat wird gezwungen Stromkabel zu halten. Lässt er sie beim Stromschlag vor Schmerz fallen, wird er geschlagen.

Der estländische Analyst Artur Rehi hat 2024 ausgerechnet, dass einem Russen, der sich zum Dienst in der Ukraine meldet, vom Zeitpunkt der Unterschrift durchschnittlich noch ein Monat zu leben bleibt. Durchschnittlich.
Die Ausbildung ukrainischer Soldaten im Westen auf unsere Panzer hat deutlich länger gedauert.

In Bachmut wurde es zum ersten Mal umfangreich beobachtet:
Russland schickt „Sturmtruppen“ nach vorne. Bestehend aus Wehrpflichtigen und ehemaligen Gefängnisinsassen. Deren Rekrutierung inzwischen offiziell verboten ist. Ziehen die dann das Feuer auf sich, wissen die Russen, wo die ukrainische Artillerie steht und können auf sie schießen.
Das ist natürlich nicht immer und überall so. Es zeigt aber die Logik, die Wertschätzung und die Mentalität.

Die vielen Videos zeigen immer wieder den Beschuss von russischen Fahrzeugen, die fluchtartig zurückgelassen werden. Und immer wieder sind Truppen zu sehen, die augenscheinlich ohne Ausbildung sich völlig falsch verhalten und dann tot auf den Äckern der Ukraine liegen bleiben.
Ein Video zeigte einen Soldaten, der mit dem Fuß an etwas tippt. Die meterhoch fliegenden Stücke seines Körpers zeigten, dass es eine Panzermine war.

Zwei Männer werden bei der Rekrutierung mit Schlagstöcken geprügelt und mit einem Elektroschocker malträtiert.

Screenshot: Zwei Männer werden bei der Rekrutierung mit Schlagstöcken geprügelt und mit einem Elektroschocker malträtiert.

Mehr noch: Russische Kriegsgefangene haben berichtet, dass sie bei der Rückkehr von Offizieren geschlagen und gefoltert wurden, wenn zu viele überlebt haben. Weil sie dann nicht „mutig“ genug gekämpft hätten.
Laut russischen Soldaten liegt diese Quote des Lebens für diese „Sturmeinheiten“ bei fünf Prozent.

Offiziere, die bei uns Kompanien und Bataillone führen („Führen von Vorne“), gibt es dort nicht. Diejenigen, die wir in Drohnenvideos weglaufen oder auf Minen treten sehen, sind Wehrpflichtige, Gezogene, einfache Soldaten.
Die Offiziere bleiben Kilometer weit dahinter.

Die Unerträglichkeit der Realität

Wenn schon dieser Realitätsabgleich an der psychischen Gesundheit zehrt, sollte man hinterfragen, was das wohl über das russische Selbstverständnis aussagt. Und darüber, was wir als „psychische Gesundheit“ definieren.

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Screenshot Drohnenvideo: Ein verletzter russischer Soldat versucht sich mit seiner Kalaschnikow zu erschießen. Als diese auch beim zweiten Versuch nicht funktioniert, bleibt er weinend liegen, das Video bricht ab. Es gibt auch mehrere Videos, in denen Verletzte von Kameraden erschossen wurden und weitere Selbsttötungen.

„Ich glaube, das wichtigste, das wesentlichste geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis, immer und unaufhörlich, überall und in allem zu leiden. Mit diesem Lechzen nach Leid scheint es von jeher infiziert zu sein. Der Strom der Leiden fließt durch seine ganze Geschichte; er kommt nicht nur von äußeren Schicksalsschlägen, sondern entspringt der Tiefe des Volksherzens. Das russische Volk findet in seinem Leiden gleichsam Genuss.“
Fjodor Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers, 1873

Die russische Seele scheint für Europäer unergründlich. Denn wie wollen wir, mit unserer als höchstem Ideal angebeteten Individualität, auch nur ansatzweise eine Möglichkeit haben zu verstehen, wie wenig Russen sich selber wertzuschätzen scheinen. Das Volk ist lediglich eine Verhandlungsmasse. Und es scheint sich selber so zu verstehen.

Putin ist nichts anderes als ein Zar, der unantastbare Pharao, der Caesar, der Halbgott in seinen Hallen aus Marmor. Geboren aus dem KGB und der St. Petersburger Mafia. Wie schon beim Zaren und den Parteivorsitzenden der Sowjetunion ist es kulturbedingt unmöglich, dass er Fehler machen kann. Und deshalb müssen alle Fehler und Erfolglosigkeiten, die unterlaufen, von anderen unter ihm verursacht worden sein. Deshalb fallen dann auch hochrangige Menschen in ihrem Flugzeug vom Himmel oder vom Balkon. Oder werden wenigstens vor laufenden Kameras zusammengeschissen und erniedrigt, ausgestrahlt zur besten Sendezeit. Und deshalb werden Bürgermeistern und Gouverneuren die Ausweise abgenommen, damit sie sich nicht absetzen können.

Wir Deutsche sagen uns gerne Obrigkeitshörigkeit nach. In der russischen Seele scheint sie implizit.
Aber nach zwei kurzen Zeitfenstern des Personenkultes im vergangenen Jahrhundert, die Millionen Leben gekostet haben, scheinen wir sie schnell wieder abgelegt zu haben. Mehr noch, wir reagieren allergisch auf den bloßen Verdacht.
Aus unseren friedensverwahrlosten Augen muss es so scheinen, als sei das ein normaler Krieg. Als hätten beide Seiten ein berechtigtes Interesse. Als gäbe es auf beiden Seiten Unmenschlichkeiten. Die es nun einmal in jedem Krieg gibt. Weil wir es so wollen. Weil alles andere unser Weltbild und unsere Selbstzufriedenheit in Frage stellen würde.

Das Problem daran ist, dass es auf russischer Seite über hundertjährige Tradition hat. Das wir uns nicht eingestehen, was doch so offensichtlich ist. Nicht einzelne Unmenschlichkeiten sind entscheidend, sondern wenn sie systemisch sind.
Nicht Europa ist der Maßstab der Realität, es ist die Ausnahme.

Die Frage ist nur, was wir uns erlauben zu sehen und zu verstehen. Wie weit wir uns trauen, die Realität unser europäisches, egozentrisches Weltbild hinterfragen zu lassen.
Und weil wir uns davor scheuen, können Politiker, Professoren, Sicherheitsexperten und andere uns im Fernsehen erzählen, käme es nur zu Verhandlungen, sei bald Friede und alles sei gut.
Wie dieser Frieden in Donezk und auf der Krim aussieht, werden erst Historiker in einigen Jahren ans Licht bringen. Doch dann wird keiner mehr zuhören.

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Foto: Ein weinender ukrainischer Soldat über hastig aufgeschütteten Gräbern seiner Kameraden.



Erschienen auf steadyhq