Dienstag, 11. Oktober 2022

Railway to hell!

von Mirjam Lübke...

Die Bahnsteige des Frankfurter Bahnhofs beginnen gefühlt gleich hinter Palermo, winden sich dann von Italien aus über die Schweizer Alpen über Basel nach Stuttgart, um dann endlich im beschaulichen Hessen anzulanden. Von dort aus sind es dann nur noch ein paar Kilometer bis zum Hauptgebäude. Zwischendrin gibt es ein paar Bänke, auf denen man sein Basislager aufschlagen kann, so sie denn nicht von anderen Erschöpften schon besetzt sind. Und die obligatorischen Raucherkäfige mit gelber Umrandung, die es einem ermöglichen, per Rauchzeichen ein Signal abzusetzen, dass man zwischen Palermo (Abschnitt F) und Hauptgebäude noch nicht das Schicksal von Ötzi erlitten hat. Falls jemand dort ein Skelett mit einer Einhorn-Kette um den Hals findet: Bestellt bitte Streuselkuchen zu meiner Beerdigung.



Als im Home-Office Tätige freue ich mich immer ungemein auf die zwei Dienstreisen pro Jahr zur Fraktionsklausur in Thüringen. Während ich anfänglich noch quer durch die Republik reiste, um hin- und herzupendeln, bin ich jetzt ein Gefangene des Frankfurter Bahnhofsuniversums. Er ist meine persönliche Nemesis, dieser Bahnhof ist geplant worden, um unschuldige Reisende in den Vorhof der Hölle zu versetzen und den dicken unter ihnen - also mir - ein unfreiwilliges Laufprogramm aufzunötigen. Man sitzt zum Beispiel in froher Erwartung im Abschnitt F und bewundert die Pinienbäume Palermos, da es von dort aus gemäß Fahrplan in fünf Minuten nach Düsseldorf weitergehen soll.
 
Doch ach, man bekommt schon eine drohende Vorahnung seines unglücklichen Schicksals, denn der dort abgestellte Vorgänger-ICE verweilt auf dem Gleis wie eine gesättigte Riesenpython und wird noch emsig mit Getränken beladen. Nun ist der deutsche ICE kein Shinkansen und niemand würde von den Bahnmanagern verlangen, bei einer Verspätung von fünf Minuten öffentlich Selbstmord zu begehen, um die Schande zu tilgen. Was in Japan eine Staatskrise auslöst, geht in Deutschland heute noch als pünktlich durch. Zum Glück muss Kaiser Wilhelm das nicht mehr erleben.
 
Doch nun wird in Palermo - also Abschnitt F - per Lautsprecher verkündet, dass der gewünschte ICE in fünf Minuten von einem anderen Gleis abfahren werde. Man ahnt: Die Platzreservierung ist futsch, der Zug wahrscheinlich obendrein. Der innere Schweinehund flüstert einem ein, man würde das ohnehin nicht schaffen, könne also ruhig sitzen bleiben, bis der nächste Zug einrollt. Der andere innere Schweinehund will allerdings dringend aufs heimische Sofa. Es braucht jetzt einen heroischen Anstoß. Am Tag vorher war ich im Hotelaufzug des bandagierten Knies meines obersten Chefs angesichtig geworden, der tapfer dennoch zum Joggen aufbrach. Nebenbei gesagt ist so eine Bandage ein guter Vorwand, einem Mann auf die nackten Beine zu schauen, schließlich könnte ein medizinischer Notfall eintreten, da will man gerüstet sein.
 
"Wecke den Björn in dir", sage ich mir angesichts dieser Tapferkeit - nun sieht das bei mir keineswegs so leichtfüßig aus wie bei meinem um die Ecke sprintenden Chef. Sondern eher wie Antje, das verblichene Walross, das zur Fütterung eilt. Andere Fahrgäste verzichteten allerdings aus Pietät darauf, mir auf meinem Weg rohen Fisch zuzuwerfen. Doch - oh Wunder! - es gelang mir noch, den Zug zu erwischen, auch wenn ich nach dem Ergattern des letzten freien Sitzplatzes erst einmal wiederbelebt werden musste. Eine Maske hatte ich natürlich auch noch nicht auf, aber niemand beschwerte sich - schließlich hätte ich darunter kollabieren können. Früher auf mein Sofa kam ich deshalb trotzdem nicht: Ein Schaden an der Beleuchtung ließ nämlich den Zug erst einmal stranden.
 
Doch einmal im Ernst: Ist es wirklich so schwierig, einen Gleiswechsel rechtzeitig anzukündigen, wenn er mal vonnöten ist? Da gibt es all diese netten Apps, die einem jede Kleinigkeit des Fahrtablaufs vermelden - aber in Sachen Gleiswechsel versagen sie regelmäßig. Es wird so viel von Inklusion gesprochen, da wäre es doch ein netter Anfang, den auf welche Weise auch immer beim Gehen behinderten Fahrgästen eine Chance zu lassen. Ich verlange schließlich nicht gleich eine Express-Rikscha, obwohl das eine feine Sache wäre. Oder ein Sessellift am Bahnsteig. Sondern nur ein bisschen Zeit, das muss doch möglich sein, oder?


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