von Eric Gujer...
Manchmal geht es in der internationalen Politik nicht anders zu als im Sandkasten, wenn sich Kinder um Förmchen und Spielzeug streiten. Donald Trump zieht aus Deutschland Soldaten ab, weil er sich darüber ärgert, dass Berlin seinen finanziellen Verpflichtungen in der Nato nicht nachkommt. Er nimmt mutwillig einen Schaden für das Bündnis in Kauf, als diene dieses ausschliesslich deutschen und nicht ebenso amerikanischen Interessen.
In Deutschland hob nach der amerikanischen Entscheidung ein Wehgeschrei an wegen Trumps Gleichgültigkeit gegenüber europäischen Sicherheitsfragen, als habe Deutschland mit der Vernachlässigung der Bundeswehr die europäische Sicherheit nicht genauso missachtet.
In der Sandkiste kehren nach gutem Zureden meist Einsicht und Beruhigung ein. In der internationalen Politik ist das seltener der Fall.
Die USA und Deutschland streiten wie Kindsköpfe
Man darf daher nicht erwarten, dass die Streithähne in Washington und Berlin eine konstruktive Lösung suchen. Das wäre nicht so schlimm, ginge es nur um deutsche und amerikanische Eitelkeiten. Die beiden Länder mit ihrer Neigung zu einer manchmal exaltierten, moralisch aufgeladenen Aussenpolitik haben ohne Zweifel Gewicht, sie sind aber nicht der Nabel der westlichen Welt.
Die Nato ist der Garant der Sicherheit für alle europäischen Staaten, die nicht im russischen Einflussbereich liegen. Das gilt auch für Länder wie die Schweiz oder Schweden. Sie halten ihre Neutralität hoch, sind aber stille Nutzniesser des Schutzschirms, den die USA nach dem Zweiten Weltkrieg konventionell und nuklear über Europa aufgespannt haben.
Differenzen in der Nato bedrohen daher die Sicherheit des Kontinents insgesamt. Der geplante Truppenabzug aus Deutschland ist ein Alarmzeichen für alle, nicht nur für Deutschland. Die USA wenden sich von Europa ab. Die europäische Kritik zielt reflexartig auf den Republikaner Trump, dabei sieht der Demokrat Biden viele aussenpolitische Fragen wie sein Kontrahent. Nach sieben Jahrzehnten mit dem Schwerpunkt Atlantik richtet Amerika den Blick auf den Pazifik und den Indischen Ozean.
Auch das wäre für sich genommen nicht so schwerwiegend, wenn die Europäer willens und fähig wären, die entstehende Sicherheitslücke zu schliessen. Doch das wird nicht geschehen. Europa gedieh nach dem Zweiten Weltkrieg auch deshalb, weil es seine militärische Sicherheit an die USA delegierte und sich auf wirtschaftliche und soziale Prosperität konzentrierte. Dieses Businessmodell ist hinfällig, und das bedroht Europa.
Militär ist auch in Friedenszeiten wichtig
Wohlstand gibt es auf Dauer nicht ohne militärische Absicherung, auch wenn diese in langen Friedenszeiten kaum mehr greifbar erscheint. Historisch betrachtet, überlebte keine Nation, wenn sie Angriffe nicht abschrecken oder abwehren konnte. Wie wichtig das sicherheitspolitische Fundament ist, bemerkt die Öffentlichkeit erst, wenn es sich aufgelöst hat. Gegenwärtig löst es sich an vielen Ecken auf.
Pekings langer Arm reicht unterdessen bis nach Europa, noch nicht militärisch, dafür umso massiver wirtschaftlich und politisch. China kauft Häfen, rüstet Telekommunikationsnetze aus und schafft auch als nimmersatter Abnehmer europäischer Waren eine Abhängigkeit, von der alle nur insgeheim hoffen können, dass sie sich nicht eines Tages bitter rächt.
Russland hat inzwischen die Mischung aus physischer Gewalt wie in der Ukraine oder Syrien und dem Informationskrieg im Internet perfektioniert. Moskau ist nicht mehr übermächtig wie einst, ganz im Gegenteil; aber die Skrupellosigkeit, mit der es sein Militär einsetzt, macht es zu einem ernstzunehmenden Widerpart.
Der strategische Wert der Nato sinkt
Und die Nato? Sie wurde gemäss einem in die Jahre gekommenen Bonmot gegründet, um die Amerikaner drinnen, die Sowjets draussen und die Deutschen unten zu halten. Inzwischen sind die Amerikaner auf dem Weg nach draussen, die Chinesen lassen sich anstelle der Russen häuslich nieder, und die Deutschen sind längst von einer militaristischen Bedrohung zur pazifistischen Herausforderung mutiert. Im Alltag funktioniert die Nato reibungslos, strategisch verliert sie an Wert.
Europa vermag der Entwicklung wenig entgegenzusetzen. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bilden Frankreich und Grossbritannien das Rückgrat der europäischen Verteidigungsanstrengungen. Die kleinkarierte Art, wie London und Brüssel über die Details des Brexits verhandeln, versieht diese Partnerschaft allerdings mit einem dicken Fragezeichen. Neben Frankreich unterhalten die Briten die einzigen Streitkräfte, die (mit diskreter amerikanischer Hilfe) noch eine mittelgrosse Militäroperation stemmen können.
Deutschland macht zwar seine kaputtgesparte Bundeswehr allmählich wieder fit, die pazifistische Kehrtwende seit 1945 verhindert aber zuverlässig deren Einsatz, wenn es um mehr als um blosse Friedensmissionen geht. Mit diesem Deutschland gibt es keine autonome europäische Verteidigung. Paris muss immer fürchten, dass Berlin im entscheidenden Moment seine Teilnahme an einer Militäroperation verweigert.
Europa bleibt politisch ein Zwerg
Die «incertitudes allemandes» entwerten alle gemeinsamen Anstrengungen selbst dann, wenn eine deutsche Beteiligung gar nicht erforderlich ist. So beteiligte sich Deutschland nicht an den Luftangriffen auf Libyen im Jahr 2011. Mit der Drohung, seine Soldaten aus den Awacs-Flugzeugen und den Nato-Stäben abzuziehen, gefährdete Berlin jedoch den Einsatz unmittelbar.
Selbst in seiner direkten Nachbarschaft ist Europa ein politischer Zwerg, weil die militärische Komponente fehlt. Gerade scheitert eine Friedensinitiative für Libyen, weil sich die Europäer nicht auf die konsequente Durchsetzung eines Waffenembargos verständigen konnten.
Die nationalen Eigenheiten und Sondertouren nehmen den europäischen Streitkräften die Schlagkraft, die sie im Verbund eigentlich hätten. Die amerikanische Führung machte das teilweise wett, weil sie ein Ziel und einen festen Rahmen vorgab. Fällt dies weg, sollte man sich keine Illusionen über die Geschlossenheit der Europäer machen.
Selbst wenn es nur ums Geld geht, streiten sie auf dem Basar von Brüssel wie die Kesselflicker. Wie sieht es erst beim Militär aus, bei dem jedes Land sehr eigene Traditionen hat? Vor allem dann, wenn schnell entschieden werden muss, wie man reagiert, die Konfrontation sich aber in einer Grauzone abspielt, beispielsweise ein Angriff russischer oder chinesischer Cyberkrieger auf die europäische Energieversorgung.
Atomwaffen gehören nicht dem Schattenreich der modernen hybriden Kriegsführung an. Sie sind und bleiben der ultimative Garant jeder militärischen Sicherheit, das ist heute nicht anders als im Kalten Krieg. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit kollabiert gerade die ab den sechziger Jahren mühsam aufgebaute Rüstungskontrolle.
Es ist immer dasselbe Spiel: Erst brechen die Russen einen Vertrag, dann kündigen die Amerikaner den Vertrag. Neue Abkommen kommen nicht zustande, weil sich China der Rüstungskontrolle mit fadenscheinigen Argumenten verweigert. Das wiederum dient den USA als Vorwand für Untätigkeit.
Atomwaffen gewinnen wieder an Bedeutung
Da das komplexe System der Verträge rasch erodiert, ist eine glaubwürdige atomare Abschreckung heute so wichtig wie lange nicht mehr. Diese wird bis anhin in Europa von Amerika sichergestellt, ein europäisches Pendant existiert nicht. Frankreich und Grossbritannien besitzen zwar Atomwaffen, diese sind indes nur zur Verteidigung des eigenen Landes vorgesehen. Präsident Macron hat Berlin unterdessen eine Teilhabe angeboten – zaudernd und zögernd, als misstraue er seinen eigenen Worten. In dieser Halbherzigkeit kommt das ganze europäische Malaise zum Ausdruck.
Die selbsternannte «Friedensmacht Deutschland» macht um alle nuklearen Fragen einen weiten Bogen. Sie versucht erst gar nicht, die französischen Waffen für gesamteuropäische Zwecke zu nutzen, weil sie dann eine Mitverantwortung übernehmen müsste. Berlin glaubt, es handle moralisch, wenn es militärische Verantwortung scheut.
Falten die USA ihren Schutzschirm zu, stehen die Europäer im Regen. Den Erpressungsmanövern Russlands, das seine Atomwaffen zielstrebig modernisiert und ihnen in seiner Militärdoktrin einen zentralen Platz zuweist, können sie nichts entgegensetzen.
Ohne Sicherheit kein Wohlstand. Diese Feststellung ist heute aktueller denn je, aber Europa ignoriert sie hartnäckig.
Erschienen im Newsletter #170 der NZZ...
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