von Thomas Heck...
Jedes Jahr erscheint wieder die Diskussion ums Tempolimit in den Medien. Das Thema ist einfach nicht totzukriegen. Ich selbst fahre heute eher gemütlich über Autobahnen, habe aber auch beruflich oder privat nicht mehr so weite Strecken zurückzulegen. Der Rest ist dem Alter geschuldet. Und dem Benzinpreis. Es gab da aber auch andere Zeiten. Dennoch bin ich selbst heute gegen ein Tempolimit. Fast. Denn gegen ein Tempolimit von 250 km/h hätte ich nichts einzuwenden, würde uns das doch vielleicht vom rasenden Touristenfahrer befreien, der gerne Deutschlands gut ausgebautes Autobahnnetz dafür mißbraucht, einen Ferrari oder Lamborghini mit 350 km/ über die Autobahn zu jagen, was ja auch erlaubt ist, aber gemeingefährlich. Ansonsten sind deutsche Autobahnen die bundesweit sichersten Strassen mit den wenigsten Verkehrsunfällen, Verkehrstoten und Verletzten. Und was ist mit dem Klima?
Die Begrenzung auf 120 km/h auf Autobahnen würde erhebliche Mengen an CO₂ einsparen, sagt das Umweltbundesamt. Gutachter der FDP kommen zu einem anderen Ergebnis. Wer hat recht?
Dieser Streit war vorprogrammiert. Schon lange gibt es in Deutschland eine hitzige Debatte über ein Tempolimit auf Autobahnen, wie es in allen anderen europäischen Ländern existiert. Ein Argument dafür sind die möglichen Einsparungen an Treibhausgas-Emissionen.
Das Umweltbundesamt (UBA) veröffentlichte dazu im Januar ein Gutachten. Ein allgemeines Tempolimit von 120 km/h auf deutschen Autobahnen würde demnach jährlich 6,7 Millionen Tonnen CO₂ einsparen. Zum Vergleich: Das gesamte Verkehrsaufkommen samt Bahn verursacht rund 150 Millionen Tonnen.
Daraufhin beauftragte die FDP-Bundestagsfraktion eine eigene Analyse. Deren Autoren kamen zu einem weit geringeren Wert von lediglich 1,1 Millionen Tonnen. Das Gegen-Gutachten, über dessen Ergebnis zunächst die „Bild“ berichtete, liegt dem Tagesspiegel vor.
Drei Fachleute, die an keiner der beiden Arbeiten beteiligt waren, haben sich die Papiere im Detail angesehen und die Unterschiede für den Tagesspiegel kommentiert. Teilweise halten sie Kritikpunkte der FDP-Gutachter für diskussionswürdig, alle bescheinigen dem UBA-Gutachten aber eine gute Methodik und Aussagekraft. Zwei der drei befragten Gutachter kommen zu dem Schluss, dass die Wahrheit zwischen den beiden ermittelten Werten liegen könnte.
Das Gutachten des UBA wurde von Verkehrswissenschaftlern der Universitäten in Stuttgart und Graz verfasst. Beteiligt war außerdem die PTV Transport Consult GmbH, ein Unternehmen aus Karlsruhe, das unter anderem Simulationssoftware entwickelt. Die Auswirkung eines Tempolimits ist nur Aspekt in dem 361 Seiten langen Dokument. Das viel kürzere FDP-Gutachten verfassten Alexander Eisenkopf von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen und Andreas Knorr von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer.Woher kommen die Daten?
Um zu verstehen, wie es zu der großen Diskrepanz in den Ergebnissen kommen kann, muss man zunächst wissen, wie solche Werte überhaupt ermittelt werden. Unbestritten verbrauchen alle Fahrzeuge bei sehr hohen Geschwindigkeiten überproportional viel Kraftstoff, da der Luftwiderstand mit dem Tempo exponentiell ansteigt. Entsprechend mehr Treibhausgase werden dabei in die Luft geblasen.
Komplizierter ist die Frage, wie stark man diese Emissionen durch ein allgemeines Tempolimit reduzieren könnte. Die UBA-Gutachter haben zunächst reale Daten des Navigationsdienstleisters TomTom analysiert und ermittelt, wie schnell die verschiedenen Autos auf Strecken mit und ohne Geschwindigkeitsbegrenzung fahren. Zudem kann man errechnen, wie sich dadurch je nach Autotyp und Verkehrssituation der Kraftstoffverbrauch verändert. Diese Daten entnahmen die Gutachter dem „Handbuch für Emissionsfaktoren des Straßenverkehrs“ (HBEFA), einer öffentlichen Datenbank, die von sechs europäischen Ländern finanziert und betrieben wird.
Die Daten gaben die Forscher dann in eine Modellierung ein, mit der man das Verhalten von Millionen Fahrzeugen unter verschiedenen Bedingungen simulieren kann – auf über 13.000 Kilometern Autobahn.
Hier setzt die erste Kritik der FDP-Gutachter an: Die komplexe Modellierung sei nicht nachvollziehbar, das Ergebnis daher nicht reproduzierbar. Dem stimmen die vom Tagesspiegel befragten Experten im Prinzip zu, halten dies aber für kaum vermeidbar. Michael Krail vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung sagt: „Das Modell, das die UBA-Gutachter benutzt haben, ist State-of-the Art, und ohne solche Modellierung geht es nun einmal nicht.“
Krail ist Stellvertretender Leiter des „Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme“ und arbeitet seit 20 Jahren selbst mit ähnlichen Verkehrsmodellierungen. Er hält es gerade für eine Stärke des UBA-Gutachtens, dass ein besonders leistungsfähiges Netzwerkmodell eingesetzt wurde, entsprechend seien die ermittelten Werte verlässlicher als die aus früheren Gutachten.“ Krail fügt hinzu: „Das FDP-Gutachten lässt nicht erkennen, dass es sich auf eine ähnliche Modellierung stützt.“
Sehr ähnlich urteilt auch Wolfgang Schade. Der Wirtschaftsingenieur und promovierte Volkswirt leitet die Denkfabrik M-Five, die bei nachhaltigen Mobilitätskonzepten berät. Sein Urteil: „Das UBA-Gutachten beruht auf einer ausgereiften Modellierung.“
Wer nutzt TomTom?
Michael Krail findet die Kritik auch im Detail wenig nachvollziehbar. Die FDP-Gutachter bemängeln beispielsweise die Tatsache, dass die UBA-Fachleute Daten der TomTom-Navigation ausgewertet haben, die nur 15 Prozent der Verkehrsteilnehmer nutzen. Diese, so die Kritik, würden häufiger in hochpreisigen Autos eingesetzt werden, die im Schnitt überdurchschnittlich schnell fahren. Der Effekt eines Tempolimits werde so überschätzt. „Im Gegenteil“, sagt Krail, „eine Stichprobe, die 15 Prozent aller Fahrzeuge ausmacht, ist weit besser als alles, was es zuvor gab.“
4,5 Millionen Tonnen würden laut UBA eingespart, weil die Autos im Schnitt weniger schnell fahren und dadurch weniger Sprit verbrauchen. Weitere 1,3 Millionen Tonnen errechnen sich aus „Routenwahleffekten“: Manche Autofahrer wählen kürzere Routen über Landstraßen, wenn sie auf der Autobahn nicht mehr unbegrenzt schnell fahren dürfen. Dazu kommen dann noch 0,9 Tonnen durch sogenannte „Nachfrageeffekte“: Wer nicht mehr unbeschränkt aufs Gaspedal treten darf, steigt manchmal auf den Zug um oder verzichtet gleich ganz auf die Fahrt.
Weg von der Autobahn
Beides, geänderte Routenwahl und Nachfrage, wollen die FDP-Gutachter überhaupt nicht gelten lassen, da solche Annahmen zu spekulativ seien. Dem widerspricht Wolfgang Schade: Das sogenannte „Vier-Stufen-Modell“, nach dem Autofahrer und andere Verkehrsteilnehmer bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung nicht nur langsamer fahren, sondern auch andere Routen und Verkehrsmittel wählen, sei „eine etablierte, verlässliche Methode“.
„Fahrtkosten und Fahrzeit entscheiden über die Wahl des Verkehrsmittels, das beobachten wir schon seit Jahrzehnten“, sagt auch Michael Krail. Und gerade in Zeiten, in denen sich Menschen zunehmend von Navigationssystemen leiten ließen, würden sie je nach Rahmenbedingungen unterschiedliche Routen wählen.
Auch Thomas Grube vom Institut für Energie- und Klimaforschung am Forschungszentrum Jülich hält das UBA-Gutachten grundsätzlich für belastbar. Der promovierte Maschinenbauingenieur, der die Forschungsgruppe „Verkehrstechniken und zukünftige Mobilität“ leitet, sieht allerdings kritische Stellen, die einer weiteren Analyse bedürfen. Zudem würden die Ergebnisse und Schlussfolgerungen für das Jahr 2018 gelten. „Die Corona-Pandemie sowie die gestiegenen Kraftstoffpreise könnten inzwischen zu einem geänderten Geschwindigkeitsverhalten geführt haben.“
Letztlich, so sagt Grube, lässt sich das in der UBA-Studie ermittelte Ergebnis vielleicht als eine maximal mögliche Reduktion interpretieren. Das Ergebnis des FDP-Gutachtens sei sicher deutlich zu gering.
Michael Krail urteilt: „Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte, weil auch die Wirkung des Tempolimits sich über die Zeit verringert.“
Der genaue Wert der CO₂-Einsparung ist allerdings ohnehin nur eines der Kernargumente des FDP-Gutachtens. Ein allgemeines Tempolimit, so argumentieren Eisenkopf und Knorr, erzeuge einen Zeitverlust bei den Autofahrern und daher einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden. Deutschland Einwohner würden durch Tempo 120 auf den Autobahnen im Schnitt 24 Sekunden Zeit am Tag verlieren, was sich auf einen jährlichen Zeitverlust von 202 Millionen Stunden summieren würde.
Dieser Zeitverlust, sowohl bei geschäftlichen als auch bei privaten Fahrten, erzeuge Kosten von jährlich 5,2 Milliarden Euro, errechnen die FDP-Gutachter. Selbst wenn man von den laut UBA eingesparten 6,7 Millionen Tonnen CO₂ ausginge, hätte man für jede Tonne 390 Euro ausgeben – fünfmal so viel als es nach den aktuellen Preisen des Zertifikatshandels in Europa notwendig wäre.
Diese Argumentation wird von allen befragten Experten zurückgewiesen. „Es ist empirisch nachweisbar, dass kleine Zeitveränderungen von drei bis fünf Minuten von den Menschen gar nicht wahrgenommen werden“, sagt Wolfgang Schade. Er bezweifelt, ob man mit so wenig gewonnener Zeit überhaupt etwas anfangen könne. „Umgekehrt ist zu hinterfragen, ob durch verlorene Zeiten im Sekundenbereich wirklich ein Schaden entsteht.“
Zudem habe der Vergleich mit den CO₂-Zertifikaten einen Haken: Die FDP-Gutachter argumentierten mit einem Zertifikatspreis, in dem der Verkehr noch gar nicht enthalten ist. Weil es hier viele schwieriger ist als im Energie- und Industriesektor, die Emissionen zu senken, läge ein aussagekräftiger Vergleichspreis weit über dem aktuellen Wert. Auch Thomas Grube überzeugt die Rechnung der FDP-Gutachter nicht. „Ob ich mich eine halbe Minute pro Tag früher oder später auf den Weg zur Arbeit mache, fällt für mich beispielsweise nicht ins Gewicht. Eine ungeplante Staustunde hingegen schon“. Ein Tempolimit würde zu einer Harmonisierung des Verkehrsflusses führen und Reisezeiten insgesamt verringern helfen. Das beträfe dann auch den Wirtschaftsverkehr – mit einer unmittelbaren Kostenreduzierung.
Bei allen Gesprächen mit den Fachleuten wird eine Sorge deutlich: Der Verkehrssektor hinkt den Zielen, die 2019 mit dem Klimaschutzgesetz festgeschrieben wurden, erheblich hinterher. Nachdem die Emissionen im ersten Jahr der Pandemie gesunken waren, lagen sie seither wieder deutlich über den Werten, die für einen Klimaschutz wären.
„Das Tempolimit auf Autobahnen wäre eines der wenigen kurzfristig wirksamen Instrumente, welches aber über die Zeit, wenn in 2030 dann 15 Millionen vollelektrische PKWs in Deutschland fahren, an Wirksamkeit verliert“, sagt Wolfgang Schade. Kurzfristig wirksame Instrumente könnten seiner Ansicht nach auch temporär eingeführt werden. „Beispielsweise könnte man ein Tempolimit auf Autobahnen für die Dauer von drei Jahren einführen und dann überprüfen, ob in 2026 andere Instrumente, wie die Elektrifizierung von PKW und LKW, stärker zum Klimaschutz beitragen.“
Um den vorgeschriebenen Pfad der CO₂-Reduzierung zu erreichen, bräuchte man sicherlich ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Sogar dann, wenn der Effekt jeweils gering wäre.
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