Freitag, 18. Februar 2022

Schluss mit lustig! Ich mach' jetzt Ballett!

von Mirjam Lübke...

Jetzt habe ich mich endgültig entschieden – ich mache jetzt Ballett! Zwar bin ich bereits 53 Jahre alt, so gelenkig wie ein Betonpfeiler und grazil wie ein Sumo-Ringer, aber das sind bekanntlich nur soziale Konstrukte, schäbiger Ableismus und vorurteilsbehaftetes Fatshaming. Wenn ich sage, dass ich eine zarte, über die Bühne schwebende Ballettöse bin und mich als solche definiere, dann stimmt das auch. Böse Zungen werden sagen, mein „sterbender Schwan“ sähe aus wie ein Elefant mit Kreislaufproblemen, aber das kommt nur daher, dass unsere leistungsorientierte Gesellschaft ihnen ein falsches Bild von Ästhetik vermittelt hat, welches sie endlich hinterfragen müssen. Dabei möchte ich junge Menschen selbstverständlich unterstützen. Aber auch die Ballett-Lobby wird sich empören und mir vorhalten, echte Tanzprofis würden sich sieben Tage in der Woche die Füße blutig trainieren, um überhaupt eine kleine Chance zu erhalten, jemals in einem Theater auf der Bühne zu stehen. Da halte ich mit meinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein dagegen, denn ich bringe beim Tanzen die richtige Haltung mit und das wiegt mangelndes Talent und blutende Füße allemal wieder auf. Nach Jahrhunderten des Ballettstangenterrors muss nun endlich ein Umdenken stattfinden: Bühne frei für alle! Rein in die Tutus, raus aus der Unterdrückung!


Meine Fantasie ist ziemlich reichhaltig, wenn es um die Annahme verschiedener Rollen geht, in Tagträumen kann ich die Chefin einer intergalaktischen Streitmacht, Bibliothekarin in einer magischen Bücherei oder ein weiblicher Steven Spielberg sein. Das ist auch gut so – denn so einen Ausgleich braucht jeder Mensch einmal zum Alltag. Man kann so Kraft schöpfen, seine Wunden lecken, wenn man gekränkt wurde oder auch schon einmal einen Racheplan durchspielen, den man in der Realität so niemals umsetzen würde. Seltsam, gerade jene „Vordenker“, welche gewöhnlich mit ziemlicher Verachtung auf Unterhaltungsliteratur hinabsehen und derlei „unrealistische Trivialitäten“ am liebsten in Grund und Boden zensieren würden, machen gerade in der Realität jede Mode mit, wenn jemand sich plötzlich als etwas definiert, das die Natur ihm nun einmal nicht mitgegeben hat. Es ist verwerflich, wenn ich mir auf dem heimischen Sofa ausmale, eine Einhorntrainerin im Elfenland zu sein, aber wenn mich auf der Damentoilette ein Mann mit der Statur von Arnold Schwarzenegger und der Körperbehaarung eines Orang-Utans um eine Damenbinde bittet, weil „sie von ihrer Periode überrascht worden sei“, dann ist es mir noch nicht einmal gestattet, ein wenig irritiert zu gucken – denn das wäre „transphob“. Ein Verbrechen, das nur um Haaresbreite unter Kannibalismus rangiert. Wobei dieser wenigstens noch durch kulturelle Prägung gerechtfertigt werden kann. 

Beim Dauerbrenner-Thema „Tessa Ganserer“ hat sich diesmal Beatrix von Storch gründlich in die Nesseln gesetzt, weil sie bekundete, eine Selbsternennung zur Frau per Namensänderung und Perücke wäre für sie nicht bindend, egal, mit welchen Schimpfworten man sie dafür belege. Und damit kommen wir auch schon zum Kern des Problems: Der angestrebte Rollenwechsel unserer Tessas ist meist mit keinerlei großer Anstrengung verbunden, auch wenn so ein Schritt in der Öffentlichkeit gemeinhin als „mutig“ und „zeichensetzend“ gelobt wird. Allein schon die Masse dieser Bekundungen zeigt auf, wie wenig Mut es tatsächlich braucht, um sich öffentlich als etwas Anderes auszurufen, was man ist. Es bedarf lediglich eines mehr oder minder aufeinander abgestimmten Netzwerks von Unterstützern, das jeden mit verbaler Pest und Seuche belegt, der dem Schauspiel nicht applaudiert. Heute muss sich kein Mann mehr erst jahrelang als Frau im Alltag bewähren und schmerzhafte Operationen hinter sich bringen, um den begehrten Wechsel zu vollziehen. Das widerspricht zwar dem Wahn mancher Eltern, schon ihre Jüngsten einer Hormontherapie zu unterziehen, wenn diese sich angeblich im falschen Körper befinden, aber wer fragt heute schon nach Logik? Auf Twitter macht heute der kuriose Fall einer jungen Frau die Runde, die einen jüdischen Arzt bat, ihr einen beschnittenen Penis anzunähen, damit sie sich von ihrem Hitlerkomplex befreien könne. Ich hoffe, sie findet stattdessen einen guten Therapeuten. 

Generell setzt sich jedoch eine Tendenz durch, möglichst anstrengungsfrei ans Ziel zu kommen. Warum sollte man auch Risiken eingehen oder für die Umsetzung eines Traums hart arbeiten, wenn man maximale Ergebnisse auch mit lautem Geschrei und dem passenden ideologischen Überbau erreichen kann? Rassismus, Transphobie und Ableismus sind die Zauberworte, die jede Tür öffnen und es ermöglichen, sich an der Warteschlange zum Erfolg trotz zur Schau gestellten Leides innerlich triumphierend vorbeizuschleichen. Es ist nicht so, dass die Wünsche dieser Menschen an sich illegitim sind, aber ihre Methoden sind unfair und lassen jede Eigeninitiative vermissen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Rollenbesetzung in Historienfilmen und -serien durch schwarze Schauspieler, wenn die dargestellte Person nun einmal weiß war. Auch wenn ich alles Verständnis der Welt dafür habe, dass eine schwarze Schauspielerin einmal Anne Boleyn sein will – schon wegen der prachtvollen Kostüme – so tragen das Risiko dafür, ob der Film ein Erfolg wird, die Produzenten und der Regisseur. In einer selbst gegründeten Theatergruppe läge dieses Risiko, ob das Publikum eine schwarze Königin sehen will, bei ihr. Es mag hart sein, dass realistische Darstellungen von Schwarzen in Europa oder den USA keine Herrscherinnen und Damen der Gesellschaft zeigen können, weil es sie bis vor ein paar Jahren nicht gab. In der Gegenwart mag man keine Schwarzen aus der amerikanischen Mittelschicht zeigen, weil dies das Narrativ von der allgegenwärtigen Unterdrückung aushebelt, aber die eigene Vergangenheit ist wohl nicht glamourös genug, um eigene Geschichten darüber zu erzählen. Wer jetzt aber daraus schließt, dass schwarze Darsteller keine Chance hätten, hat offensichtlich viele große Kinoereignisse der letzten Jahrzehnte verpasst. 

Wo aber zu viele geschenkte Erfolge vergeben werden, ist der Erfolg selbst bald nichts mehr wert. Das kenne ich noch vom zweiten Arbeitsmarkt: Man freut sich gerade noch über das Lob für eine erbrachte Leistung, in der viel Zeit und Arbeit stecken, erlebt dann aber mit, wie etwas offensichtlich eilends Dahingerotztes ebenso viel Anerkennung bekommt. Mich hat so etwas immer in Selbstzweifel gestürzt, ob meine Arbeit wirklich gut war oder ich es mir nur einbildete. Schließlich will man vor sich selbst klar verorten können, was man gut beherrscht und was einem trotz Anstrengung einfach nicht gelingen will. Unsere Tessas kennen solche Zweifel nicht: Wenn sie auf dem Trittbrett der Frauenquote das Treppchen hinaufsteigen können, dann tun sie das auch ohne Scham. Und so wie unsere ideologische Führungsriege derzeit gestrickt ist, wird auch niemand daran rütteln. Schließlich könnten auch zum eigenen Aufstieg kritische Fragen gestellt werden: Waren es Können und Charakter, die zum Erfolg führten oder einfach nur zur Schau gestellte Haltung, ein Netzwerk von Gleichgesinnten und die Moralkeule? Bitte nicht zu sehr darüber nachdenken – oder sich vorher ein dickes Fell zulegen!




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