In der Folge „The Hot Towel“ der Serie „Curb your Enthusiasm“ gibt es die berühmte Geschenksong-Szene. Auf einer Party eines befreundeten Paares, zu der Larry David mit seiner Frau eingeladen ist, verkündet eine ebenfalls eingeladene Frau, sie würden dem wunderbaren Gastgeberpaar nichts Materielles schenken – „ihr habt offenbar schon alles“ – sondern ein Lied ihrer unglaublich begabten Tochter Sammi.
Das Mädchen beginnt mit einem Vortrag, bei dem sie keinen einzigen Ton trifft. Bei dem im Krächzgesang vorgetragenen Lied handelt es sich um „Can’t Take My Eyes Off You“, und tatsächlich starren die Gäste Sammi wie auf den berühmten Verkehrsunfall, von dessen Anblick man sich bekanntlich auch nicht losreißen kann. Jemand würgt leise ein ‚Oh God‘ heraus. In postmateriellen Kreisen – die gesamte Serie spielt unter Bessergestellten in Los Angeles – bleiben die Leute höflich und stoisch, weil sie wissen, dass auch der Auftritt einer hochbegabten Tochter irgendwann zu Ende geht. Nur nicht Larry mit seiner Unmusikalität für gesellschaftliche Situationen: Er würgt sie in dem Moment, als Sammi zum Refrain ansetzen will, mit einem ultimativen Applaus ab und ruft in die Runde: „Das war gut. Sehr gut.“
Natürlich wusste Larry, dass der Song nicht vorbei war. Auf seine Angewohnheiten, Konventionen zu ignorieren oder gar nicht wahrzunehmen, hatten wir schon hingewiesen. Gewiss, es wirkt sehr herzlos, in einer festlichen Runde die Aufführung einer sehr untalentierten Tochter von Bekannten abzukürzen, zumal in besseren, höflichen Kreisen. Andererseits fallen die Partygäste sofort in Larrys Schlussapplaus ein, weil sie ebenfalls wissen, dass es normalerweise noch lange nicht vorbei gewesen wäre. Selbst Sammi hätte objektiv betrachtet Grund, Larry dankbar zu sein. Es gibt nämlich auch das Drama des unbegabten Kindes. Es besteht beispielsweise darin, von einer psychotischen Mutter unglaubliches Talent eingeredet zu bekommen und nach vorn geschoben zu werden.
Wenn sie aufhören würde, wäre die Erleichterung nirgends größer als im Wahlkampf-Stab der Grünen.
Nun ist der Bundestagswahlkampf eigentlich keine Party in einer Villengegend. Und es gibt wahrscheinlich auch institutionell niemand, der jetzt, im Juni 2021 ‚sehr gut, sehr gut’ rufen, klatschen und den Auftritt der Kanzlerkandidatin Annalena Charlotte Alma Baerbock für beendet erklären könnte, obwohl sich dann ähnlich wie in der Szene Erleichterung mit lebhaftem Applaus breitmachen würde, am tiefsten, heimlichsten und ehrlichsten wahrscheinlich im Wahlkampfstab der Grünen.
Dass Baerbock und ihren Helfer schon daran scheitern, innerhalb von zwei Wochen den kurzen Lebenslauf der Vierzigjährigen so aufzuschreiben, dass er Nachfragen standhält – diese Unfähigkeit wirkt erstaunlich, macht aber nur einen Teil des Baerbock-Problems aus. Und dieser Teil könnte sich am Ende auch noch als der kleinere herausstellen.
Manche Beobachter, die ähnlich wie bei Sammi Augen und Ohren nicht abwenden können, fragten in den letzten Tagen, ob denn in Baerbocks Umgebung niemand damit gerechnet hatte, dass selbst eine grüne Kanzlerkandidatin in Deutschland so etwas wie Wahlkampf absolvieren muss, zu dem es nun einmal gehört, dass zwar nicht die Faktenchecker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit seinem Acht-Milliarden-Etat oder ein stiftungsfinanzierter Konzern wie Correctiv in der Vita einer bisher praktisch unbekannten Kandidatin herumstochern, aber die eine oder andere Einzelfigur eben doch. Ob sie denn nicht, fragten sich diese Beobachter, einer aus dem Team der Bewerberin wenigstens eine Folge von „House Of Cards“ gesehen hätte?
Eigentlich genügt schon der Blick in ein viel älteres Buch, „Primary Colors. A Novel Of Politics“ von Joe Klein, erschienen 1996. Dort gerät Präsidentschaftsbewerber Jack Stanton – ein nur leicht literarisierter Bill Clinton – trotz seiner Begabung in Schwierigkeiten, die aus seiner Biografie stammen, eine andere Art von Schwierigkeiten als die von Baerbock, aber handfest genug, um seine Kampagne zu gefährden. Er engagiert deshalb eine Frau namens Libby Dustbuster, eine Spezialistin für das Aufspüren großer und kleiner Schwachstellen, die früher oder später auch ein Journalist herausfinden könnte. Libbys Arbeitsmotto ähnelt der Katzenstreu-Werbung: Saugt auf, bevor Geruch entsteht.
Möglicherweise konnten die Grünen eine solche Fachkraft nicht finden, oder sie hätten jemand an der Hand gehabt, aber Baerbock war der Ansicht, bei ihr gebe es keine Lücken und Schwachstellen. Jetzt spielt die Frage keine Rolle mehr. Das Geld für eine noch so begabte Dustbusterin kann sich der Wahlkampfstab der Grünen sparen. Denn, siehe oben: der Geruch ist längst entstanden. Er breitet sich seit gut drei Wochen jeden Tag etwas stärker aus.
Die ersten Anfragen zu Baerbocks Lebenslauf erreichten die Bundesgeschäftsstelle der Grünen in der ersten Maihälfte, unter anderem von dem Blogger Hadmut Danisch und von dem Autor dieses Textes, der Anfang Mai bei der Universität Hamburg nachforschte, und am 10. Mai eine Reihe von Fragen zu Ungereimtheiten im Lebenslauf der Kandidatin an Baerbocks Sprecher mailte. Von dort kam keine Antwort, allerdings verschickte Partei-Sprecher Andreas Kappler einen Tag später die Faksimiles zweier undatierter Urkunden, des Vordiploms von Baerbock in Hamburg und ihres Master-Abschlusses in London. Kappler behauptete, „es kursieren erneut Falschmeldungen über Annalena Baerbock, diesmal über ihre akademische Ausbildung“, und behauptete, die „Fakten“ zu liefern. Auf etlichen Internetseiten der Partei, der Fraktion, der Parteistiftung und bei Wikipedia fanden umfangreiche Aufräum- und Umbauarbeiten statt. Es verschwand die Behauptung, sie hätte in Hamburg eines Bachelor-Abschluss erworben (diese Falschmeldung beispielsweise kursierte sowohl bei den Grünen als auch bei etlichen Medien).
Aus ihrem Masterabschluss in Völkerrecht an der London School of Economics, der suggerierte, sie sei Juristin, wurde ein Abschluss in Internationalem Recht. Dann verschwand auch der Hinweis auf ihre angefangene Völkerrechts-Promotion an der FU Berlin, die sie schon 2015 endgültig abbrach, bis vor den Putzarbeiten aber noch so dargestellt hatte, als würde die Promotion nur ruhen. Aus der Politologin und Juristin mit LLM und kurz vor der Doktorwürde wurde also Mitte Mai eine mitteljunge Frau, die ihr Studium in Hamburg abschlusslos beendet hatte, sich dann für umgerechnet etwa 11 000 Euro in einen Jahreskurs an den LSE einkaufte, bei dem laut Universitätsannalen noch nie ein Absolvent scheiterte, und die es mit diesem Papier wiederum als Promotionsstudentin an die FU schaffte, allerdings, ohne dort etwas abzuliefern. Hier, nach diesem ersten Waschdurchgang, in dem die Vita schon erheblich zusammenschrumpelte und ausfaserte, wäre der allerletzte sinnvolle Zeitpunkt für einen Libby-Dustbuster-Einsatz gekommen, die zusammen mit der Kandidatin jedes weitere Komma im Lebenslauf hätte abklopfen müssen. Bekanntlich passierte das nicht.
Dabei hätte Baerbock sogar einen kompetenten Berater in ihrer Nähe gehabt, theoretisch jedenfalls. Ihr mittlerweile pensionierter Vater Jörg Baerbock arbeitete als Personalchef bei dem Automobilzulieferer Wabco in Hannover. Er müsste wissen, wie ein wasserfestes Bewerbungsschreiben aussieht, und welche Fehler jemand unbedingt vermeiden sollte. Beispielsweise alle, die bei Annalena Baerbock dann noch folgten.
In den nächsten Wochen erledigten sich dann durch Nachfrage des FAZ-Journalisten Philip Plickert und von Don Alphonso mehrere Pseudo-Mitgliedschaften in ihrem Lebenslauf, etwa beim UNHCR – in dem es gar keine Mitgliedschaft von Einzelpersonen gibt – und beim German Marshall Fund, wo sie einmal einen Kurs absolvierte, mehr aber auch nicht. Dann schrumpfte noch ihr Büroleiterposten bei der EU-Abgeordneten Elisabeth Schroedter zusammen: in der neuen Biografieversion übte sie den „nicht die ganze Zeit“ aus, die sie ursprünglich angegeben hatte. Und auch nicht überwiegend von Brüssel aus. In der vorerst letzten Umbaustufe kippte auch noch die freie Mitarbeit bei der „Hannoverschen Allgemeinen“ von 2000 bis 2003 aus dem Lebenslauf, keine Kleinigkeit, denn es handelte sich um ihre einzige Tätigkeit außerhalb der Berufspolitik. Aber eben nicht ganz um die Tätigkeit, die sich die Öffentlichkeit unter der einer freien Journalistin vorstellt. Im Archiv der Zeitung finden sich für die drei Jahre gerade eine handvoll Beiträge, ein Text beispielsweise über die Stimmung bei Abiturienten in ihrem Heimatort („zwei ZiS-Autorinnen fassen ihre Abi-Gefühle in Worte“) – ZiS, Zeitung in der Schule, steht für eine Kooperation des Blattes mit Schülern), ein Bericht über eine Theateraufführung in einer Kirche, ein Artikel über den TSV Schulenburg.
Zu einer Vita, die jetzt nur noch ein mit etwas finanziellem Einsatz hingebogenes Studium und ausschließlich Berufsstationen in der Politik enthält, kam dann noch die Sache mit den spät nachgemeldeten Nebeneinnahmen und dem steuerfreien Corona-Bonus von 1500 Euro, der eigentlich nur für Angestellte gedacht ist. Als Parteivorsitzende arbeitet Baerbock nicht im Angestelltenstatus, als gut versorgte Abgeordnete mit 10083,47 Euro Diät im Monat hätte sie den Bonus außerdem nicht nötig gehabt.
Keine Lust, sich sagen zu lassen, „das kann nicht funktionieren“
Hier beginnt der deutlich unangenehmere Teil der Geschichte, unangenehm für Baerbock, ihr Team und das Unterstützungsumfeld in den Medien: Verfehlungen wie das unberechtigte Kassieren eines Corona-Bonus, das späte Nachmelden von Nebeneinkünften und das Aufblasen des eigenen Lebenslaufs wären weniger gravierend, wenn es irgendeinen Ausgleich gäbe, ein politisches Verdienst oder zumindest irgendetwas von Gewicht in ihrem Wirken und Wesen. Aber gemessen an dem, was sie ohne Zwang und nach eigenen Ambitionen anstrebt – nämlich das Kanzleramt – sieht es auf dieser Seite ihrer Bilanz noch viel, viel schlechter aus.
Die „New York Times“ zählte während der Amtszeit von Donald Trump seine falschen und irreführenden Aussagen, und nummerierte sie durch – oder was sie dafür hielt – , manches auf der NYT-Liste bewegte sich auf der wichtigtuerischen Faktenchecker-Ebene, aber es kam auch allerhand zusammen. Eine Baerbock-Liste nach diesem Muster legte bisher kein Medium in Deutschland an, obwohl sie mittlerweile auch ziemlich umfangreich ausfallen würde.
Annalena Baerbock erfand in ihrem mittlerweile legendären Deutschlandfunk-Interview (21.1.2018) das Speichernetz: „An Tagen wie diesen, wo es grau ist, da haben wir natürlich viel weniger erneuerbare Energien. Deswegen haben wir Speicher. Deswegen fungiert das Netz als Speicher. Und das ist alles ausgerechnet.“ Wie ein Netz, das nur stabil funktioniert, wenn so viel eingespeist wie entnommen wird, als Speicher funktionieren soll, begründete sie nicht, baute aber schon einmal mit einer Art Generalklausel möglichen Nachfragen vor: „Ich habe irgendwie keine wirkliche Lust, mir gerade mit den politischen Akteuren, die das besser wissen, zu sagen, das kann nicht funktionieren“.
Sie behauptete bei Maybritt Illner (am 13. 12. 2018), die Deutschland hätte einen CO2-Aussstoß „von 9 Gigatonnen pro Einwohner“. Tatsächlich waren es 2018 8,9 Tonnen. Eine Gigatonne bedeutet: eine Milliarde Tonnen. Der weltweite CO2-Ausstoß lag 2020 bei etwa 40 Gigatonnen.
In einem Interview mit dem Blogger Tilo Jung sprach sie von der „UN-Charta als höchstes Gremium“. Die UN-Charta ist ein Dokument, kein Gremium.
Im Juni 2019 diagnostizierte sie die Zitteranfälle von Angela Merkel als Auswirkung der Klimaerwärmung: „Auch bei der Bundeskanzlerin wird deutlich, dass dieser Klimasommer gesundheitliche Auswirkungen hat“.
Am 11. März 2021 twitterte Baerbock zum 10. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Fukushima: „Zeit innezuhalten und an die vielen Menschen zu denken, die durch das Unglück zu Schaden gekommen sind oder ihr Leben verloren haben. Es ist beruhigend, dass Deutschland nächstes Jahr aus der Hochrisikotechnologie #Atomkraft aussteigt.“
Durch die Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 verloren nicht viele Menschen das Leben, sondern zum Zeitpunkt des Unglücks niemand. Im Jahr 2018 starb ein früherer Mitarbeiter des Kraftwerks an Krebs. Er gilt als das einzige Fukushima-(Langzeit)-Strahlenopfer.
Die soziale Marktwirtschaft hielt die Politikerin, die immerhin einige Semester Politikwissenschaft studierte, in einer Bundestagsdebatte im Mai 2021 für eine Erfindung der SPD. Und kürzlich sorgte sie sich in einem Tweet um die soziale Gerechtigkeit von Klima-Maßnahmen: „Menschen mit geringem Einkommen verbrauchen meist weniger CO2“.
Menschen verbrauchen überhaupt kein CO2, egal ob arm oder reich. Sie stoßen es aus.
Diese Fehler- und Verwechslungsliste ist natürlich unvollständig. Bisher wurde sie von einer amtslosen Oppositionspolitikerin befüllt, die aber in Zukunft die größte Volkswirtschaft Europas regieren will. In ihren Vorträgen, Interviews und Talkshow-Auftritten wirkt Baerbock fast nie wie eine Person, die sich auf ein Gespräch einlässt, sondern eher wie eine Sprecherin, die abgespeicherte Textbausteine ausstößt, dabei aber deutlich öfter durcheinanderkommt als andere im Politikbetrieb.
Neben ihren Schwierigkeiten, halbwegs strukturiert zu argumentieren, kommen bei ihr auch öffentliche Momente, die in – um es vorsichtig zu sagen – mindestens den Bereich der Verhaltensauffälligkeit lappen. Als Maybritt Illner ihr das mittlerweile zehntausendmal abgerufene Video eines NDR-Auftritts von ihr und Robert Habeck vorspielte, in dem sie sich mit dem Satz „ich komme eher aus dem Völkerrecht“ etikettiert, nachdem sie den promovierten Philologen Habeck mit „Hühner, Schweine, was haste, Kühe melken“ zum Landei gestempelt hatte, erklärte Baerbock, das sei ja ein „Zusammenschnitt“, und die „Ausgangsfrage“ – also: was unterscheidet die beiden – sei für die Zuschauer gar nicht erkennbar. Tatsächlich kommt genau diese Ausgangsfrage in dem Video vor, dass Illner zeigte. Es handelte sich auch nicht um einen Zusammenschnitt. Baerbock biegt ein Video, das in diesem Moment hunderttausende Zuschauer sehen, einfach kontrafaktisch um.
Eine Politikerin, die sich nobilitierende Mitgliedschaften erfindet und sich als Doktorandin ausgibt, die sie längst nicht mehr ist, und dann, wenn sie ertappt wurde, behauptet, sie hätte ihre Vita eben knapp und komprimiert halten wollen, leidet mindestens unter einer schwer gestörten Selbstreflektion. Auf jeden Fall fehlen ihr kompetente Berater und Helfer, die sie wenigstens an den schlimmsten Selbstdemontagen hindern .
Apropos Berater und Unterstützer: Die Grünen in Leipzig suchen für den Wahlkampf Helfer, sie bieten für den Job 40 Stunden Arbeit pro Woche und eine Vergütung von 450 Euro, was einem Stundenlohn von 2,81 Euro entspricht.
Die Grünen sind kollektiv das verzogene Blag der wohlmeinenden Medien in Deutschland
Und das führt uns in Zentrum der Frage, wie es überhaupt passieren konnte, dass eine 40jährige Frau mit etwas merkwürdiger Bildungskarriere, ohne bürgerlichen Beruf und ohne Erfahrung in einem öffentlichen Amt, eine Politikerin, die sich ständig verhaspelt, unangenehm narzisstisch wirkt („ich Völkerrechtlerin, du Schweinebauer“), und die, zurückhaltend gesagt, Schwierigkeiten mit der Realitätseinschätzung zu haben scheint, dass eine solche Politikerin als aussichtsreiche Kanzlerkandidatin durch die Medienöffentlichkeit zieht. Baerbocks Position wirkt ein bisschen, als stünde Sammi aus „Curb Your Enthusiasm“ vor 15.000 Menschen in der Hollywood Bowl, um einen Gesangsabend zu geben.
Um jemand dahinzubringen, müssen sich mehrere Handlungsstränge miteinander verbinden. Annalena Baerbock stünde nicht dort, wo sie jetzt kippelnd steht, wenn sie nicht ein wichtiges und hinreichend großes Milieu in Deutschland verkörpern würde, und das nicht nur gut, sondern nahezu perfekt. Sie stellt den Idealtyp der höheren Töchter und Söhne dar, die nie in ihrem Leben ersthafte Konflikte durchzustehen hatten und sich sozial nie nach oben hangeln mussten, weil sie familiär schon ein gehobenes Wohlstandsniveau mitbekommen, denen sich nie ernsthafte Widerstände in den Lebensweg stellten, weswegen sie sich nie wirklich anstrengen mussten, um irgendwo unterzukommen.
Die Kinder dieses Milieus werden von Anfang an mit einem Zaubertrank großgezogen, der tatsächlich ein bisschen wirkt und viele trotz mäßiger Begabung erstaunlich weit trägt, nämlich Lob, Lob und noch einmal Lob. Die Praxis, Kinder schon für ihre Anwesenheit zu loben, zuhause, später in der Schule, und selbst einen Krächzgesang höflichst zu beklatschen, das gilt unausgesprochen als Merkmal dieser besseren Kreise, in denen Scheitern gar nicht vorgesehen ist. In diesen gepflegten Vorstadtsiedlungen kann es durchaus vorkommen, dass jedes dritte Kind nach Meinung seiner Eltern hochbegabt ist. Wer dagegenhält, dass das nur für zwei Prozent eines Jahrgangs gilt, nämlich für die mit einem IQ von über 130, der macht sich ähnlich unbeliebt wie Larry auf der Dinnerparty, der die talentierte Tochter abwürgt.
Die führenden Politiker der Grünen stammen meiste aus diesen besseren Kreisen, ein großer Teil ihrer Wählerschaft auch. Vertreter dieses Milieus finden sich auch noch in zwei anderen Bereichen überdurchschnittlich oft: in den Medien und in den NGOs. Die Wirkung dieses Phänomens potenziert sich dadurch, dass sich hier der gleiche latent narzisstische Typus in einem Selbstbestätigungszirkel aus Partei, Fernsehstudio und Aktivistenorganisation unentwegt selbst begegnet. In diesem Zirkel behandeln die wohlmeinenden Medien die Partei der Grünen insgesamt exakt wie die Eltern aus diesem Milieu ihre Kinder: sie loben, loben und loben nochmals.
Sie bestaunen die Löcher in den Socken des Parteivorsitzenden, wuscheln ihm freundschaftlich durchs Haar, wenn er Unsinn über die Pendlerpauschale und die BaFin erzählt, sie unterbrechen die Kanzlerkandidatin nicht, wenn sie etwas über einen beinahe gewählten Faschisten in Thüringen und andere kontrafaktische Dinge erzählt, und vor allem gilt die stillschweigende Verabredung, jede Grundsatzkritik an der Partei als Ganzes zu vermeiden. Die Grünen ähneln folglich einem verzogenen Blag, das sich eigentlich alles erlauben kann, auch und gerade Dissonanzen, an denen Parteien weiter rechts zerbrechen würden.
Die Grünen können sich für eine Obergrenze bei Parteispenden von 20.000 Euro einsetzen und auf der anderen Seite eine der größten Einzelspenden in Deutschland überhaupt von einem deutsch-russischen Fondsmanager in der Höhe von 500.000 Euro und dann noch eine Million von einem Bitcoin-Millionär entgegennehmen, sie können die Abholzung im Hambacher Forst und im Dannenröder Forst im Kabinett mitbeschließen, den Protest dagegen anfeuern und gleichzeitig ungerührt riesige Abholzaktionen für Windkraftanlagen in Gang setzen, sie können sich gegen Antisemitismus einsetzen und gleichzeitig die Autorin Kübra Gümüsay hofieren und einladen, die den islamistischen und antisemitischen Autor Necip Fāzıl Kısakürek als deutsche Schulbuchlektüre vorschlägt, sie kann – als einzige Bundestagspartei – ihrer Führung einen üppigen Bonus für Wahlkampferfolge zahlen und gleichzeitig Wahlkampf-Fußtruppen für einen rumänischen Hungerlohn anheuern. Sie kann Joe Kaeser zu ihrem Parteitag einladen und gleichzeitig mit anderen Linksaußen-Demonstranten unter Hammer-und-Sichel-Fahnen in Berlin auf die Straße gehen, als das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel kippte. Alles ist möglich, und der Tag, an dem ein ARD- oder ZDF-Interviewer Baerbock wegen dieser Praxis, von Linksaußen bis zur Mitte Stimmen abzukassieren, tatsächlich nur ein bisschen in die Mangel nehmen würde, dieser Tag kommt so schnell nicht. Wie auch in einer ARD, deren Moderatorin die Grünen am Wahltag in Sachsen-Anhalt „mit zu den Gewinnern des Abends“ rechnet, weil sie immerhin mit 5,9 Prozent als kleinste Partei in den Landtag rutschten?
In seinem Wahlkampf 2016 sagte Donald Trump, er könne jemanden auf der Fifth Avenue erschießen, und würde trotzdem gewählt. Ein ähnliches Gefühl muss sich auch bei Annalena Baerbock eingestellt haben.
Zu dem Narzissmus des mittelmäßigen Bürgerkinds kommt bei den Grünen noch ein zweites Prinzip, das in diesem Milieu auch über tiefe Wurzeln verfügt, und dem der Soziologe Helmut Schelsky schon in den Siebzigern einen Namen gegeben hatte: Die Arbeit tun die anderen. Wenn es so etwas wie eine Die-Arbeit-tun-die anderen-Partei gibt, dann die Grünen. Das gilt zum einen ganz unmittelbar: Warum, wird man sich gedacht haben, teure Wahlkampfberater und Fehlersucher engagieren, wenn die Partei allein mit den öffentlich-rechtlichen Sendern über eine Agentur mit acht Milliarden Euro Budget verfügt? Wozu Fehlersuche im eigenen Team, wenn schon geklärt ist, dass Kritik beispielsweise am Lebenslauf nur von rechten Einzelmännern stammen kann?
Das Motto gilt aber auch im weiteren Sinn, nämlich in dem Grundvertrauen einer Annalena Charlotte Alma Baerbock und anderen, dass Deutschland ruhig seine Atom- und Kohlekraftwerke abwracken kann, und kundige Leute schon dafür sorgen, dass trotzdem genügend Strom fließt. So, wie sie darauf vertrauen, dass jederzeit genügend Steuergeld herangeschafft wird, das verteilt werden kann, trotz immer höherer Energiepreise. Und so, wie sie davon ausgehen, dass sie die Pflegereserve schon jetzt plündern können, und es irgendjemand hinbiegen wird, wenn es ab 2030 deutlich mehr Pflegebedürftige gibt, deutlich weniger Zahler, aber eben keinen Notgroschen mehr.
„Die Arbeit tun die anderen“ ist das heimliche Motto der Metaebenen-Bürgerkinder
Das Milieu der ewig gelobten Metaebenen-Bürgerkinder, die darauf vertrauen, dass die eigentliche Arbeit anderswo stattfindet, dieses Milieu bildet mehr oder weniger die harte Grünen-Wählerschaft in Deutschland. Wer dazu gehört, kreuzt die Grünen auch an, wenn Baerbock Spitzenkandidatin bleibt. Allerdings macht dieses Milieu nicht ein Vierteil der Wahlberechtigten aus. Sollten die Grünen ihren Parteitag vom 11. bis 13. Juni nicht doch noch nutzen, um die Kanzlerkandidatin im allerletztmöglichen Moment gegen Habeck auszutauschen, dann gilt: Der Song ist noch längst nicht vorbei. Er muss noch über viele Strophen gequält werden. Und das Publikum kann die Augen nicht abwenden. Am Ende reicht es höchstwahrscheinlich für ein Ergebnis zwischen 15 und knapp unter 20 Prozent, also für eine Juniorpartnerschaft mit der CDU. Das heißt: Es kommt noch ein ganzes Konzert mit Sammi und einer begeistert mitsingenden Mutti im Hintergrund.
Falls nicht ein Blackout Partyort schlagartig verdunkelt. Denn das Prinzip „Die Arbeit tun die anderen“ reicht zwar weit. Aber irgendwann kommt es unweigerlich an eine Grenze.
Das Schöne daran ist: Dann haben die anderen versagt. Um mit Sammis Mutter zu sprechen: „Du hast unser Geschenk ruiniert.“
Erschienen in Tichys Einblick...
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