Für den Angriff auf die Nato hatte der Warschauer Pakt detaillierte Pläne ausgearbeitet. Danach sollte die 5. NVA-Armee Norddeutschland überrennen, bevor der Westen Atomwaffen hätte einsetzen können.
Knapp 300 Kilometer Luftlinie – so weit ist es von Boizenburg an der Elbe bis zur deutsch-niederländischen Grenze bei Nordhorn. Nirgendwo in Deutschland ist es weniger weit zwischen der ehemaligen DDR, an deren äußerstem westlichen Rand Boizenburg lag, und Westeuropa.
Genau deshalb sollte hier, so die streng geheimen Planungen des Warschauer Pakts, die wichtigste Offensive des Dritten Weltkriegs geführt werden. Denn zwischen Boizenburg und Nordhorn hätte in nur fünf bis sieben Tagen ein konventioneller Angriff aus dem geteilten Deutschland heraus in ein anderes Nato-Land vorstoßen können.
Mehr als 30 Jahre lang sah die Grundstrategie des Warschauer Pakts einen massiven Angriff auf Westeuropa als wesentliche Methode im Falle eskalierender Spannungen zwischen Ost und West vor. Die an Panzern und Mannschaften hoffnungslos unterlegene Nato hielt anfangs mit der Strategie der „massiven Vergeltung“ mit Atomwaffen dagegen, später mit der flexibleren „abgestuften Abschreckung“. Doch würde sich der Westen mit seinen komplizierten Entscheidungsstrukturen wirklich zum Nukleareinsatz durchringen?
Die sowjetische Strategie, deren unlösbarer Teil die NVA war, setzte auf den Zeitbedarf demokratisch-rechtsstaatlicher Regierungen zur Entscheidungsfindung: Idealerweise sollte ein Angriff bereits die Niederlande erreicht haben, bevor sich die Nato auf einen atomaren Schlag gegen die vorrückenden Streitkräfte des Warschauer Pakts geeinigt hätte.
Denn dann wären die Kernwaffen entweder auf dem nun besetzten Territorium der Bundesrepublik oder sogar – wenn die sowjetischen Angriffsspitzen attackiert worden wären – auf niederländischem Gebiet einzusetzen gewesen. Das hätten westdeutsche oder holländische Politiker mutmaßlich zu verzögern versucht – und damit die ganze Nato-Strategie zum Einsturz gebracht.
Detaillierte Offensivpläne für den Warschauer Pakt sind nur für den Bereich der 5. NVA-Armee erhalten – weil sie ein seinerzeit zuständiger Stabsoffizier rekonstruiert hat.
Ziel der Planung war dem Kronzeugen nach, die von der Nato vorgesehene konventionelle „Vorwärtsverteidigung“ unmittelbar an der innerdeutschen Grenze zu stören, die taktische Initiative zu erringen und die Kämpfe schnell und möglichst weit auf das gegnerische Territorium vorzutragen, „um eigene Verluste an Kräften und Mitteln sowie Schäden zu begrenzen“.
Die dokumentierte Planung sah jedenfalls vor, dass drei motorisierte Schützen-Divisionen (Mot-Schützen-Division) und eine Panzerdivision der NVA in Norddeutschland in Angriffskeilen auf einer Frontbreite von etwa 60 Kilometern vorstoßen sollten. Am Abend des ersten Tages sollten Lüneburg und Uelzen überrannt sein – ein Vormarsch von etwas mehr als 50 Kilometern also. In solchen Dimensionen hatten sich die Panzervorstöße der Wehrmacht in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs bewegt.
Am Abend des zweiten Tags waren die niedersächsischen Kleinstädte Schneverdingen und Winsen (Aller) das Ziel, am dritten Abend wollte die NVA Brückenköpfe am Westufer der Weser errichtet haben. Weitere 24 Stunden sollte eine Mot-Schützen-Division vor Osnabrück stehen.
Auf den Plänen sind diesseits der deutsch-niederländischen Grenze Sammelräume für alle vier NVA-Divisionen vorgesehen – südlich von Nordhorn, um Steinfurt und nördlich von Bocholt. Nicht eingetragen sind allerdings die Vormarschziele der sowjetischen 94. Mot-Schützen-Division und der beiden selbstständigen Panzerregimenter der UdSSR, die ebenfalls zum Bestand der 5. NVA-Armee gehörten, die erst im Konfliktfall gebildet worden wäre.
Naturgemäß finden sich auf den Plänen für die 5. NVA-Armee auch nicht die Ziele des Hauptangriffskeils, den der Warschauer Pakt gen Westen geschickt hätte – durch die „Fulda Gap“ im südlichen Hessen. Hier sollten, wie man aus anderen Quellen weiß, wenngleich nicht annähernd so detailliert, massive Panzerkräfte die Hauptmacht der US Army in Europa in vernichtende Kämpfe verwickeln.
Ein Krieg wäre wohl in Europa nach einer Woche schon entschieden gewesen. Entweder hätten die USA und Großbritannien, damals die beiden einzigen Atommächte der Nato (Frankreich war 1966 aus dem Bündnis ausgetreten) Moskau sofort glaubhaft mit einem massiven Atomschlag für den Fall eines nicht sofortigen Rückzugs gedroht – doch dafür hätte es schon einer Persönlichkeit wie John F. Kennedy bedurft.
Oder – und das war wahrscheinlicher – die westlichen Staaten und ihre führenden Politiker hätten sich untereinander zerstritten. Belgien und die Niederlande hätten zum Beispiel darauf bestehen können, dass nicht atomar zurückgeschlagen würde, solange ihre Grenzen nicht überschritten seien. Für den Fall, dass dies doch geschehe, hätten sie ebenso die Bundesrepublik opfern und verlangen können, dass die Truppen des Warschauer Pakts sich lediglich über die deutsche (dann allerdings nicht mehr westdeutsche) Grenze zurückzögen.
Damit rechneten die Strategen des Warschauer Pakts wohl, denn nur bei einer solchen Erwartung hätten die dokumentierten Angriffspläne politisch Sinn gemacht. In einem Sechstagekrieg die Bundesrepublik zu überrennen, die damals über die stärkste konventionelle Armee der Nato in Europa verfügte, hätte Eindruck gemacht. So hätte der sowjetisch-kommunistische Machtbereich stark ausgeweitet und ein Atomkrieg dennoch vermieden werden können.
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