Samstag, 5. August 2017

Selten einen dreisteren Seitenwechsel gesehen...

von Thomas Heck...


Dass die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten in Niedersachsen die Partei wechseln wird, kostet die rot-grüne Regierungskoalition in Niedersachsen ihre hauchdünne Mehrheit im Landtag – von nur einer Stimme. Offiziell sitzt Twesten zwar noch für die Grünen im Parlament, nur will sie künftig nach ihrer neuen Überzeugung abstimmen: im Sinne der CDU. Politikbeobachter kommentieren das unterschiedlich, je nach Parteizugehörigkeit:




Nach dem Verlust der Koalitionsmehrheit werde es die SPD in Niedersachsen noch schwieriger haben, die Union im Bundestagswahlkampf einzuholen, vermutet Robert Roßmann von der Süddeutschen Zeitung. Ministerpräsident Stephan Weil "setzt jetzt auf vorzeitige Neuwahlen in seinem Land. In der jüngsten Umfrage, sie stammt von Ende Mai, liegt die CDU aber 14 Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten", schreibt der Autor. "Weder für ein rot-grünes Bündnis noch für eine Ampelkoalition gibt es den Zahlen zufolge eine Mehrheit. Weil muss also damit rechnen, abgewählt zu werden." Für die SPD sei das deshalb "ärgerlich", weil Niedersachsen als Herkunftsbundesland des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, des Außenministers Sigmar Gabriel, des Fraktionschefs Thomas Oppermann und des Generalsekretärs Hubertus Heils "eine besondere Bedeutung hat".

Dem stimmt Jacques Schuster von der Welt zu: "Niedersachsen ist nicht irgendein Land. Sondern die Heimat (...) der halben Parteispitze." Ob die Sozialdemokraten wollen oder nicht; sie werden "nun zumindest mental in das Trümmerfeld Hannover hineingezogen werden", schreibt Schuster. Dies werde auch Konsequenzen für den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz haben. "Schulz höchstselbst wird in den Ruinen stecken und sich unter erheblichem Kraftaufwand herauswinden müssen. Ob er dann noch die Stärke zum verbalen Funkenschlagen, zum Stichen, zum Parierern und Scherzen besitzt, ist fraglich", schreibt Schuster. Er kommt zu dem Schluss: "Twesten wird bald vergessen sein, angesichts der Krise, in der Niedersachsen nun steckt." Diese Krise habe nicht nur landes-, sondern auch bundespolitische Folgen. 

Konsequenzen auf Bundesebene prognostiziert Michael Berger von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, der kommentiert, dass es beim Fraktionswechsel gar nicht um Elke Twesten gehe, auch nicht um die Grünen, die nun ihre Macht durch "amateurhafte Parteiarbeit" verspielt hätten. Es ist grundsätzlicher: Rot-Grün fehlt bundesweit jede Anziehungskraft – und die niedersächsische Regierung unter Stephan Weil ist eher Beleg als Gegenbeweis für diese Beobachtung." Schließlich sei durch Twesten nicht "ein strahlendes Kabinett schändlich politisch gemeuchelt worden", sondern es zerbrösele seit einiger Zeit eine "oft nur pragmatische, zuweilen auch nur noch in eigener Kompromiss-Seligkeit gefangene Landesspitze", schreibt Berger.

Auch die Frankfurter Rundschau glaubt, dass der Fraktionswechsel Twestens für die Sozialdemokraten und Bündnis90/Die Grünen Folgen auf Bundesebene haben wird. Die Zeitung sieht im "Verlust der Ein-Stimmen-Mehrheit für Rot-Grün in Niedersachsen" einen "schwer zu verkraftenden Tiefschlag". "Es lässt tief blicken, wenn eine grüne Landtagsabgeordnete nach Nichtnominierung für die Landtagswahlen durch die eigene Partei mal eben mir nichts, dir nichts zur CDU wechselt", schreibt die Zeitung. Was Elke Twesten getan habe, schade dem Ansehen der gesamten Politik, bringe aber vor allem die Grünen, die es "mit der Moral besonders genau nehmen", in die Bredouille. Für die SPD wiege vor allem symbolisch schwer, dass nun schon wieder etwas gewaltig schieflaufe. "Das ist nicht die Schuld von Martin Schulz. Aber: Er muss damit klarkommen", so die Zeitung.



Der Aussage, dass es bei der Causa nicht um Elke Twesten an sich gehe, widerspricht Alexander Will von der Nordwest Zeitung, der in seinem Kommentar Dreist anprangert, selten einen "dreisteren und egoistischeren Seitenwechsel" gesehen zu haben. "Politischer Verrat ist nie eine appetitliche Angelegenheit", schreibt Will. Es gehe es nicht darum, ob es Twesten erlaubt sei, die Fraktion zu wechseln oder nicht, sondern "um politische Hygiene und demokratische Kultur". Die Abgeordnete solle sie "über einen Satz Julius Cäsars nachdenken: 'Ich liebe den Verrat, aber hasse den Verräter'", schreibt Will. Twestens Denken und Handeln diskreditierte das demokratische System, weshalb auch der CDU dringend zu empfehlen sei, "Twesten nicht dafür zu belohnen". 

In diese Richtung kommentiert ebenfalls Michael Ahlers von der Braunschweiger Zeitung. Der CDU-Landesvorsitzende Bernd Althusmann habe sich Ahlers zufolge "klugerweise" jede Triumphgeste verkniffen. Ahler glaubt, dass es nicht eindeutig sei, "ob das Ganze wirklich eine 'Intrige' ist, wie Stephan Weil sagte". Der Ministerpräsident dagegen deutete Ahlers zufolge an, dass sich eine vorgezogene Landtagswahl auch zum Strafgericht über Abgeordneten-Wechselmanöver eigne. "Doch das ist gefährliches Terrain. Eine neue Dolchstoßlegende braucht Niedersachsen nicht."


Eine heuchlerische Doppelmoral, denn als 2016 ein thüringischer AfD-Abgeordneter zur SPD wechselte, war das alles noch in Ordnung. So berichtet der Spiegel im April 2016, dass die thüringische SPD-Fraktion die Aufnahme des ehemaligen AfD-Abgeordneten Oskar Helmerich beschlossen hatte. Das teilte eine Fraktionssprecherin in Erfurt der dpa mit. "„Es gab acht Ja- und zwei Neinstimmen." Ein Abgeordneter habe nicht an der Abstimmung teilgenommen. Zuerst hatte die "Thüringer Allgemeine" über den Wechsel berichtet. Mit Helmerich hat die rot-rot-grüne Regierung in Thüringen jetzt eine Mehrheit von zwei Stimmen im Parlament. Helmerich war in der vergangenen Woche bereits in die SPD-Stadtratsfraktion von Erfurt eingetreten. Nach seinem Austritt aus der rechtspopulistischen AfD saß der Erfurter Rechtsanwalt als fraktionsloser Abgeordneter sowohl im Stadtrat als auch im Landtag. Helmerich war im vergangenen Jahr wegen Streitigkeiten mit Fraktionschef Björn Höcke aus der AfD ausgetreten.

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