What a difference a day makes! Kaum haben in Großbritannien die Falschen über das Schicksal des Landes abgestimmt, schon zieht das Sturmtief Martin quer über den Kontinent. Was haben die Deutschen sich doch bis zur letzten Sekunde um ihre britischen Freunde gesorgt. Fast umgekommen wären sie vor Angst um die britische Wirtschaft. Denn deren Wohlergehen hängt offenkundig nicht von freiem Handel und dazugehörigen Abkommen ab. Nur Richtlinien, Bürokratie und die „Kommissarin für den Binnenmarkt, Industrie und Unternehmertum sowie kleine und mittlere Unternehmen“ können florierenden Handel gewährleisten.
Und so warnten sie und warnten sie – und machten zudem eine große Ausnahme. Denn Wirtschaft im Allgemeinen, die angelsächsisch-kapitalistische Variante im Besonderen, liegt den Deutschen für gewöhnlich ja eher weniger am Herz. Aber wenn es „um Europa geht“, darf man schon mal so suspekte Gestalten wie Aktienhändler aus der Londoner City vor die Kamera ziehen, die vor einem Brexit warnen. Höher besteuern kann man sie noch später.
Irgendwie musste man die störrischen Insulaner schließlich zur Einsicht bringen. Nicht nur der Weltfrieden stand auf dem Spiel. Es drohte auch die Aussicht, deutsche Alleingänge irgendwann nicht mehr als „europäische Lösungen“ tarnen zu können. Insgeheim beleidigt, dass die Briten eine solche Abstimmung überhaupt wagten, warfen sich die Deutschen also couragiert ins Gewand des wohlmeinenden Ratgebers, der als „Europäer und Europäerin“ ja nur das Beste für das Königreich will. Dass der Brite es nämlich nicht so mag, schon im Vorfeld mit deutschen Drohungen konfrontiert zu werden, flüsterte ihnen der Restverstand dann doch noch heimlich zu.
Die EU und ihre Freunde schlagen zurück
Nun allerdings hat sich gemeinsam mit den Briten auch der Restverstand verabschiedet. Seit Freitag wird vom Kontinent aus mit harten Bandagen kämpft. Die EU-Vertreter im Allgemeinen, die Deutschen im Besonderen, sind über Nacht von einer auf den Knien rutschenden Ehefrau zu einer Furie mutiert, die das Auto des verhassten Gatten demoliert. „Out is out“, schallt es aus den Reihen derer, die nun extra hart verhandeln wollen, damit der Brexit auch wirklich nachhaltig wehtut. Ganz so, wie es sich für einen fortschrittlichen Club, dem man gerne angehören möchte, eben gehört. Parallel beschwert sich Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, über David Cameron und dessen gefühlte Amtsanmaßung bis Oktober. So, als sei Schulz selbst erst gestern in Brüssel eingezogen.
Währenddessen macht die Armee der guten Europäer auf allen anderen Kanälen mobil. Verspätete Wahlkampfbus-Kritik, Analysen über verblödete Briten, die erst jetzt das Wörtchen Brexit in die Suchmaschine eingeben und Meldungen über eine Petition, wonach schon mehr als zwei Millionen Briten wieder zurück in die starken Arme der EU-Kommissare wollen, machen die Runde. Kaum ist die eine Horrormeldung halb verdaut, schon folgt die nächste. Nur Reisewarnungen des Auswärtigen Amts fehlen noch.
Gerne wüsste man, wozu eigentlich am Verhandlungstisch schmerzhafte Zeichen gesetzt werden müssen, wenn die Briten schon jetzt so sehr leiden. Aber die EU ist eben ein Projekt, das stets bloß besser erklärt werden muss.
Es wird Zeit, dass die Jüngeren mit den Älteren abrechnen
Da ist es gut, dass es auch noch Europäer mit Herz gibt. Zu ihnen zählt Justizminister Heiko Maas, der die jungen Briten nicht allein lassen will. Ob er eine sicherere Fluchtroute durch den Ärmelkanal plant oder Care-Pakete über Oxford abwerfen möchte, ist hingegen noch nicht bekannt. Behilflich könnte ihm dabei auch die Redaktion der FAZ sein. Dort sind gerade ebenfalls Vertreter des „Zentralrats der Jugend im Herzen“ dabei, das Schlimmste zu verhindern. „Es wird Zeit, dass die Jüngeren wieder härter mit den Älteren abrechnen“, heißt es da. Denn auch die grau melierte „Sorge um die Reinheit der Heimat“ sei es, die nun den Jüngeren die Zukunft „verbaue“. Nichts Geringeres als eine „neue Rebellion“ sei daher notwendig. Eine großartige Idee, die sich auch schon angeboten hätte, als Andrea Nahles die Rente mit 63 präsentierte. Aber die Arbeitsministerin ist eben kein alter weißer Mann.
Offenkundig weiß man nicht nur bei der FAZ viel besser, was im Detail auf dem britischen Wahlzettel stand. „In or out“, „weiter so“ oder Unabhängigkeit von der EU mit Open end, können es jedenfalls nicht gewesen sein. Zumindest sieht es so aus, wenn man sich all die Warnungen vor einem neuen und alten weißen Nationalismus genauer ansieht. Ganz so, als hätte die Mehrheit der Briten nicht einfach nur für den Brexit, sondern auch automatisch für die sofortige Ausweisung aller Nicht-Briten und hohe Mauern gestimmt. Überhaupt könnte man meinen, dass keineswegs freiheitsliebende Briten zur Wahl gebeten hätten, sondern eine französische Präsidentin namens Marine Le Pen. Dass es im Rahmen eines Frexits in der Tat um die Entscheidung zwischen nationalem und internationalem Sozialismus ginge, ist ja wahrlich kein Gerücht.
Die Rassisten haben gewonnen
Aber in Zeiten wie diesen muss man es mit landestypischen Besonderheiten nicht so genau nehmen. Da reicht auch ein Erasmus-Studium oder ein Roadtrip quer durch Frankreich und Italien, um zu wissen, dass „die Rassisten gewonnen haben“ und man „das doch noch sagen dürfen wird“. So tönt es jedenfalls aus dem inoffiziellen „Arbeitskreis Pegida“ der „taz“. Unmittelbar nach der Entscheidung meldeten sich dort besorgte Mitarbeiter zu Wort, die den Unterschied zwischen Freizügigkeit mit und ohne Brüsseler Wasserkopf nicht kennen.
Derweil machen sich die bedrohte deutsche Jugend und Junggebliebene auf Twitter darüber Gedanken, wie man derart unpassende Wahlergebnisse in Zukunft verhindern könnte. Ein Ausschluss von Alten bei der Abstimmung von Zukunftsfragen, zumindest aber eine Gewichtung von Stimmen in Abhängigkeit zur Lebenserwartung zählen zu den Ideen, die bislang hoch im Kurs stehen. Dass es tatsächlich mal alte weiße Männer gab, die ähnlich über das allgemeine Frauenwahlrecht dachten, ist dabei freilich nur Zufall. Denn die progressive #aufschrei-Jugend twittert in Krisenzeiten schließlich auch intensiv über einen nicht mehr ganz frischen, dafür aber sehr frauenverachtenden „Wiesenhof“-Werbespot, wenn sie mit den demokratischen Grundprinzipien fertig ist.
Wenn um das Friedensprojekt geht, ist alles erlaubt
Damit passt sie ganz wunderbar zu jungen und erfrischenden Europaparlament-Abgeordneten wie Terry Reintke von den Grünen. Das „Europa der alten weißen Männer in dunklen Anzügen, die in irgendwelchen Hinterzimmern Verträge unterschreiben“ sei nicht ihr Europa, verriet sie in ihrer Bewerbungsrede. In ihrem Europa stehen hingegen so wichtige Fragen wie eine europäische Arbeitslosenversicherung oder der Zugang zu „sexueller und reproduktiver Medizin“ auch für „Prostituierte, Inhaftierte, Migranten und injizierende Drogenkonsumenten“ auf dem Programm. Dinge also, die im DGB, bei der Caritas oder auf Twitter nicht hinreichend geklärt werden können. Dafür braucht es schon einen Frauenausschuss, in dem Terry Reintke leider auch „komische Leute“ wie Beatrix von Storch (AfD) „mit so ganz vielen homophoben und antifeministischen Ausfällen“ ertragen muss, wie sie kurz nach ihrem Amtsantritt beklagte. Inzwischen hat sie ein neues Fass aufgemacht, abuse im cyber space.
Ganz offensichtlich schwebt nicht nur die EU von Martin Schulz und Jean-Claude Juncker in Gefahr. Auch das Europa von Terry Reintke steht auf dem Spiel. Grund genug für Jung und gefühlt Jung, kräftig zurückzuschlagen und den alten weißen Männern zu zeigen, wer am längeren Hebel sitzt. Eben wussten die EU und ihre Freunde nur besser, was gut für den Einzelnen in Perugia und Prag ist. Nun fahren sie die Krallen aus. Es gilt, einen Rückfall in düstere Zeiten zu verhindern. In Zeiten, als Europa noch schlank genug war, um den ungehinderten Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen – kurz: Frieden - zu garantieren. „Mehr Europa wagen“ lautet die Devise. Denn viel hilft viel. Wenn dabei auch mal Nationalismus und Protektionismus mit Liberalismus und Subsidiarität verwechselt werden, ist das nicht weiter schlimm. Selbst die eine oder andere Mogelei, gepaart mit totalitären Ideen, ist durchaus in Ordnung. Im Krieg und im Friedensprojekt ist alles erlaubt.
Womöglich kann eine solche EU nur lieben, wer von ihr lebt oder autoritär-sadistisch veranlagt ist. Aber keine Sorge: Deutschland wird als Letztes von Bord gehen. Ein Glück.
Erschienen auf der Achse des Guten
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen