von Alexander Will...
Die Lage im Nahen Osten ist äußert angespannt. Die IS-Offensive hat die fragile Sicherheitsarchitektur der Region ins Wanken gebracht. Auch Hisbollah und Hamas rüsten massiv auf.
Jerusalem Im Nahen Osten beginnt in diesen Tagen die heißeste Zeit des Jahres. Politisch und militärisch brennt die Region in einigen Teilen lichterloh. In anderen herrscht trügerische Ruhe. Das gilt überraschenderweise auch für Israel. Abgesehen von Messerattentaten einzelner islamistischer Fanatiker und erfolglosen Raketenangriffen aus dem Gazastreifen, gefolgt von Luftschlägen der israelischen Armee, ist es in den vergangenen Monaten zwischen Jordan und Mittelmeer ruhig geblieben.
Dagegen eskalierten die Kämpfe in der Nachbarschaft. Trotz wiederholter Versicherungen der Vereinigten Staaten, der Islamische Staat (IS) sei dem Tode geweiht und militärisch am Ende, rafften sich die Islamisten zu einer beispiellosen und sehr erfolgreichen Offensive im Irak und in Syrien auf. Diese Vorgänge betreffen auch Israel. Handelt es sich also dort zurzeit nur um die Ruhe vor dem Sturm?
Teile der israelischen Sicherheitskreise scheinen das zu glauben, und sie haben Gründe dafür. Es brennt nämlich an allen Grenzen Israels. Wirkliche Ruhe herrscht dieser Tage nur im Osten, nach Jordanien hin. Dort funktioniert der kleine Grenzverkehr. Autos mit jordanischen Nummern sind in Israel unterwegs, und christliche Pilger können ungehindert die Taufstelle am nur fünf Meter breiten Fluss Jordan besuchen, in dessen Mitte die Grenzlinie verläuft.
Nervosität im Norden
In Ägypten, dem Nachbarland im Süden, hat das Chaos bereits einen Namen: Halbinsel Sinai. Fuhren vor dem „Arabischen Frühling“, der Machtübernahme der Muslimbrüder und ihrem Sturz noch israelische Touristen in großer Zahl an die Strände des Roten Meeres, ist das nun vorbei. Das Risiko ist schlicht zu groß. In der Wüstenregion führen ägyptische Truppen, Islamisten und einheimische Stämme Krieg mit wechselnden Fronten. Geiselnahme und Lösegeld-Erpressung ist zu einem florierenden Geschäft geworden.
Noch ist Israel von diesem Staatsversagen nicht betroffen. Das kann sich jedoch schnell ändern, wenn die Islamisten sich entscheiden, den jüdischen Staat ins Visier zu nehmen und die ägyptische Regierung die Region nicht unter ihre Kontrolle bringen kann.
Im Norden und Nordosten Israels ist die Situation dagegen extrem brenzlich. Zwar versucht der jüdische Staat, sich aus dem syrischen Bürgerkrieg herauszuhalten. Je länger dieser aber dauert, um so schwieriger wird das. Zivile Flüchtlinge versuchen, sich über die Grenze in Sicherheit zu bringen. Geschosse schlagen auf israelischem Territorium ein. Die Armee hat daher ein Feldlazarett in den Golanhöhen aufgebaut, erwidert bei Beschuss das Feuer, greift aber ansonsten nicht ein.
Bei einem Besuch der Golanhöhen ist die Nervosität jedoch ständig zu spüren. Transporte mit schweren Waffen rollen auf den Straßen, das Militär ist im gesamten Gebiet überdeutlich präsent. Das liegt auch daran, dass man die Kämpfe in Syrien von den Golanhöhen sehen kann. Hinter der UN-Pufferzone steigt täglich Rauch auf, sind Militärfahrzeuge zu sehen und auch Schüsse zu hören.
Strategen in Sorge
In der israelischen Öffentlichkeit – bis weit hinein in die politische Linke – ist man heute froh, dass Israel die 1967 eroberten Golanhöhen kontrolliert. Der Islamische Staat stünde sonst nämlich an den Ufern des See Genezareth, einem dicht besiedelten Gebiet, das zum israelischen Kernland gehört.
Auf den Golanhöhen und weiter im Norden an der libanesischen Grenze kulminieren heute die Sorgen israelischer Sicherheitsstrategen. Es ist nicht so sehr die Krise in den besetzen Gebieten in der Westbank, die als hochproblematisch betrachtet wird. Offen und weniger offen geht man davon aus, dass es dafür irgendwann eine Lösung, wahrscheinlich eine Zwei-Staaten-Lösung, geben wird. In Syrien und im Libanon und auch im Gazastreifen, der sich unter der Kontrolle der islamistischen Hamas befindet, sieht man hingegen Bedrohungen, die dem jüdischen Staat gefährlich werden können.
In Syrien kämpft das Assad-Regime mit Unterstützung der libanesischen Schiiten-Miliz Hisbollah („Partei Gottes“) gegen den IS und andere Islamisten. Hisbollah und die Assad-Regierung werden vom Iran unterstützt. Alle diese Kräfte haben die Zerstörung Israels offen als ihr Ziele benannt, das gilt auch für den Iran. Zur Zeit neutralisieren sie sich gegenseitig.
Doch was passiert, wenn eine Seite den Bürgerkrieg gewinnt? „Dann geraten wir ins Visier“, sagte ein israelischer Offizier dieser Zeitung. Es gäbe auf der anderen Seite der Grenzen keine Kooperationspartner. Sollte Israel von dort angegriffen werden, dann würde dies „ein schrecklicher Krieg“.
In der Tat rüsten sowohl die Hisbollah als auch die Hamas im Gazastreifen massiv auf. Israelische Quellen gehen davon aus, dass die Hisbollah im Libanon über rund 20 000 Mann verfügt sowie über ein Arsenal von 100 000 Raketen, die teilweise das gesamte Territorium Israels treffen können. Auch die Hamas im Gazastreifen, die zunehmend freundschaftliche Kontakte mit der einst verfeindeten Hisbollah pflegt, rüstet sich.
Israels Oppositionsführer Isaac Herzog sagte vergangene Woche, eine erneute Konfrontation mit der Hamas sei nur „eine Sache einiger Monate“. Die Hamas grabe wieder Tunnel, um auf israelisches Gebiet vorzustoßen, die Produktion von Raketen laufe auf Hochtouren. Herzog forderte die EU auf, dringend für die Demilitarisierung des Gazastreifens zu sorgen. Brüssel reagierte bis heute nicht.
Die Assad-Hisbollah-Allianz in Syrien und im Libanon wird in Israel auch deswegen für extrem gefährlich gehalten, weil sie vom Iran gestützt wird. Der Iran ist es, der es trotz europäisch-amerikanischer Sanktionen der Hisbollah ermöglichte, den Süden Libanons zu kontrollieren und als Aufmarschbasis zu benutzen.
Angst vor Atomwaffen
In Jerusalem will man gar nicht daran denken, was passiert, wenn die Iraner durch die Aufhebung der Sanktionen noch größere Mittel für ihre Verbündeten aufwänden können. Es ist neben den atomaren Gelüsten der Mullahs vor allem dieser Stellvertreterkrieg, der in Israel für Angst sorgt. Diese Angst wird zudem noch verstärkt, weil weder die Amerikaner noch die Europäer bereit waren, derartige Bedenken Ernst zu nehmen.
Noch ist zwischen Jordan und Mittelmeer die Lage also ruhig. Doch in diesem Sommer sollen wieder „Solidaritätsflottillen“ mit „Hilfsgütern“, finanziert von islamistischen Organisationen und wohlmeinenden europäischen „Friedensfreunden“ über das Mittelmeer nach Gaza auslaufen. Es sind genau solche Anlässe, die das Zeug haben, zu einem heißen Krieg in der gesamten Region zu führen. Vielleicht schon in diesem Sommer.