Samstag, 5. November 2016

Die Tyrannei der Willkommenskultur

von Bassam Tibi...

Wer in Deutschland dem Glaubenssatz «Wir schaffen das!» nicht zustimmt, wird als «Populist» und «islamophob» ausgegrenzt. Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun.


«Was ist deutsch?» – Mit dieser Frage hatte mein Frankfurter Lehrer Theodor W. Adorno die deutsche Kultur diskutiert und zwei Optionen für Deutschland angegeben, die einander ausschliessen: die an Kant orientierte ­Rationalität, die vom Menschen als einem vernunftbegabten Individuum ausgeht, oder die deutsche gesinnungsethische Denkweise des moralisierenden «Pathos des Absoluten». Die Kant’sche Option ist ein Modell, die zweite ist deutsche Realität. 
Ich bin Syrer und habe Deutsch erst mit 18 Jahren am Goethe-Institut gelernt, habe aber in den vergangenen vierzig Jahren ein Dutzend neue Wörter und Begriffe in die deutsche Sprache eingeführt. Hierzu gehört der Begriff «Leitkultur». Wenn man diesen Begriff auf die vorherrschende deutsche Denkweise anwendet, dann könnte man von «deutscher Leitkultur» sprechen. Das ist aber eine abscheuliche politische Kultur, die ich eindeutig ablehne. Ich trete für eine europäische Leitkultur als politische Kultur ein und betone mit allem Nachdruck, dass ich mir keine deutsche Leitkultur wünsche. Warum?
Darauf gibt es viele Antworten und eine Reihe von Gründen. Hierzu gehört die Tatsache, dass die Deutschen beziehungsweise ihre Opinion-Leaders keine demokratische Debating Culture kennen. Ich schreibe dieses Wort bewusst auf Englisch, weil der Inhalt dieses Begriffes der politischen Kultur der Bundesrepublik so fremd ist. 
In der DNA der deutschen politischen Geschichte fehlt eine Kultur des sachlichen Debattierens miteinander. Der jüdische Soziologe Reinhard Bendix definierte Demokratie als politisches Mandat des Volkes, als eine politische Kultur, die in England und Frankreich im 16. Jahrhundert – später auch in der Schweiz – in einem Prozess der Transformation geboren wurde. Eine solche Entwicklung kennen die Deutschen nicht, und es überrascht deshalb nicht, dass die amtierende Bundeskanzlerin existenzielle Entscheidungen obrigkeitsstaatlich trifft, wie etwa die Entscheidung, 1,5 Millionen Muslime nach Deutschland hineinzulassen. 
Das Volk als Masse
Diese in der SED-Diktatur der DDR sozialisierte kulturprotestantische Pfarrerstochter entwestlicht heute Deutschland in einer katastrophalen Art und Weise. Dies schreibt auch der Medienberater von Bundeskanzler Kohl, H.-H. Tiedje, in einem Artikel für die NZZ vom 8. August. Tiedje urteilt weiter, Merkel kenne aus ihrer DDR-Vergangenheit «das Volk nur als Masse, das die Vorgaben der Politik zu beachten» habe. Das Volk habe Merkels Slogan «Wir schaffen das!» widerstandslos zu befolgen, und dies tun die Deutschen, obwohl sie nicht zustimmen. Mit «Wir» meint Merkel alle Deutschen, und wer abweicht, ist ein «Rechtspopulist».
Das grösste Geschenk, das Deutschland nach seiner Niederlage 1945 von den westlichen Siegermächten bekam, ist die Demokratie und das Grund­gesetz. Diese wurden verordnet, sie sind nicht aus Deutschland selbst entstanden. Der deutsche Historiker Heinrich-August Winkler betrachtet diesen Prozess in seinem Hauptwerk sehr positiv als «die Verwestlichung Deutschlands». Zentraler Bestandteil dieser Verwestlichung ist die Annahme des Grundgesetzes. Ist die deutsche politische Kultur aber auch westlich? Nein.
Die politische Kultur Deutschlands ist nicht so demokratisch, wie das Grundgesetz es vorsieht. Deutschland ist von Hellmuth Plessner als «die verspätete Nation» bezeichnet worden. Die Spuren hiervon sind bis heute nicht überwunden worden, so zum Beispiel in der deutschen Unfähigkeit, «ein rechtes Mass zu finden», wie Plessner schreibt. Diese Verwestlichung wird heute durch Merkels Herrschaft, die faktisch einer Veröstlichung der politischen Kultur gleichkommt, abgelöst. 
Deutschland hatte seit 1945 unter Adenauer und Schmidt grosse Fortschritte bei der Verwestlichung seiner politischen Kultur geleistet. Aber sie wird unter einer Bundeskanzlerin, die in der SED-Diktatur sozialisiert worden ist, und unter einem Bundespräsidenten, der früher DDR-Pastor war und heute predigt, dass Deutschland in ein helles und ein dunkles Deutschland unterteilt sei, untergraben. Laut Wikipedia hat Merkel eine zwanzig Seiten lange Ausführung zu ihrer Dissertation miteingereicht, worin sie die Kompatibilität ihres Denkens mit dem Marxismus-Leninismus begründet. Es ist erstaunlich, wie eine Frau mit dieser Biografie heute nicht nur die konservative CDU, sondern das wichtigste Land Europas anführt. In Merkels Deutschland erlebe ich keine westliche Kultur mehr, sondern eher eine solche, die, wie mein Lehrer Adorno schreibt, «jede Abweichung» verteufelt und dies «gereizt ahndet». Aus Angst vor der Ausgrenzung verinnerlichen die heutigen Deutschen weiter, wie Adorno schreibt, die altdeutsche «innere Zensurinstanz», die schliesslich nicht nur die Äusserung «unbequemer Gedanken», sondern «diese selbst verhindert».
Merkels Herrschaft
Ich behaupte in diesem Zusammenhang, einen Mangel an Debating Culture in Deutschland zu beobachten. Dies ist mir besonders extrem während der Flüchtlingskrise aufgefallen. Unter Merkels Herrschaft, flankiert von den zujubelnden Medien, entsteht eine Diktatur des vorherrschenden Narrativs, von der keiner abweichen darf.
Kritiker erleiden in Deutschland Stigmatisierungen. Ich gehöre in der deutschen Öffentlichkeit zu den unbequemen Figuren, die man mundtot zu machen versucht. Mein Fall ist kein Einzelfall. Als muslimischer Syrer aus Damaskus und ethnischer Westasiate trage ich mit Stolz den Pass der Bundesrepublik Deutschland, weil dieses Land ein Grundgesetz hat, das ich als die modernste und demokratischste Verfassung der gesamten Welt bezeichnen möchte. Das Problem ist also nicht das Grundgesetz, sondern manche, jedoch mächtige Deutsche als Meinungsträger in diesem Land, die die politische Kultur hegemonial bestimmen. Montesquieu (1689–1755) hat den «Gesetzen/lois» einen «Geist/esprit» zugrunde gelegt. Der Geist, der das Grundgesetz trägt, ist der Geist der Freiheit, der in eine Gesellschaft eingeführt wird, die eine NS-Herrschaft hinter sich hat und keine Tradition einer Debating Culture besitzt. 
Der Wert des Grundgesetzes
Trotz der Beschneidung meiner Meinungsfreiheit in Deutschland muss ich dankbar einräumen, dass die Bild-Zeitung in ihrer Artikelserie anlässlich des Tages des Grundgesetzes im Mai 2016 mir neben Martin Walser und dem Ex-Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio die Möglichkeit gab, meine Einschätzung in einem Artikel kundzutun. Darin verband ich die Aussage, dass das Grundgesetz mir so wertvoll ist wie mein heiliges Buch – der Koran – mit folgendem Urteil: «Zugleich stösst mich ab, dass die vorherrschende politische Kultur in Deutschland nicht auf dem Niveau des Grundgesetzes steht» (Bild vom 25. 5.). Damit wollte ich sagen, dass Montesquieus Geist der Freiheit, so wie er im Grundgesetz verschriftlicht wird, in der politischen Realität Deutschlands nicht vorzufinden ist. Die politische Kultur Deutschlands lässt sich am besten mithilfe einer Kritik von John Stuart Mill aus dem 19. Jahrhundert diagnostizieren: Der grösste Mangel an Demokratie resultiert aus der Vorherrschaft einer öffentlichen Meinung, die ich «herrschendes Narrativ» nenne. Für Deutschland heisst dies in J. S. Mills Worten, eine «Neigung der Gesellschaft, ihre eigenen Ideen, auch Gesinnungen, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen den Widerstrebenden aufzunötigen … und wenn möglich zu ersticken». 
Mill nennt das «Tyrannei der herrschenden Meinung und Gefühle». Unter einer in Deutschland erweiterten gros­sen Koalition aus Merkel-CDU, SPD, Grünen und Linken, flankiert von den Medien, wird die «Willkommenskultur» zu einer Tyrannei, die jeden «An­­dersdenkenden» mit Keulen erstickt. Keulen sind keine Argumente.
Diese Neigung gehört nach John Stuart Mill «in politischen Auseinandersetzungen zu den Übeln, gegen die die Gesellschaft auf der Hut sein muss». Dies, wovor Mill im 19. Jahrhundert als Gefahr für die Meinungsfreiheit warnte, erlebe ich heute in Merkels Deutschland als eine politische Realität. 
Eine ideale politische Kultur der Demokratie gilt für Form und Inhalt. Inhaltlich muss die Grundregel «We agree to disagree» reflektiert werden. Die Form betrifft Zivilität und gegenseitigen Respekt im Umgang miteinander. Beides gibt es heute in Deutschland nicht. Für Heinrich Winkler ist die deutsche Willkommenskultur eine «Selbstgefälligkeit» deutscher Narzissten, die sich als Gutmenschen beziehungsweise Bessermenschen selbst vergötzen. In dieser Atmosphäre verkündet Merkel, «ein freundliches Gesicht» zeigen zu wollen. Das ist Merkels Staatsdogma; was noch fehlt, ist nur dies: Dieses Dogma ins Grundgesetz zu schreiben, wofür eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages erforderlich ist, die Frau Merkel problemlos hinbekommt.
Die deutsche «Selbstvergötzung» mittels einer Willkommenskultur der Bessermenschen hat durch massive Veränderungen Deutschlands und auch Europas zu starken Auswirkungen geführt. Mit den Flüchtlingen aus Nahost und Afrika kommen eine Gewaltkultur, totalitäre Weltanschauungen, ethnisch-religionisierte Armut mit Folgen; und vor allem gedeiht der Antisemitismus, den Muslime aus Nahost nach Europa mitbringen.
Aber mit welchem Recht erlaube ich mir als ein in Deutschland lebender westasiatischer Syrer, Deutschen nicht nur den Spiegel vorzuhalten, sondern ihnen Demokratiedefizite vorzuwerfen? Bin ich ein Nestbeschmutzer und ein undankbarer Mensch, weil ich dies im Ausland in einer Schweizer Zeitung tue? Ruiniere ich den guten Ruf der deutschen Demokratie? 
Mein Antwort ist diese: Ich habe die politische Kultur der Debating Culture im Westen gelernt und verinnerlicht. Ich bin Syrer und kein Deutscher und habe die Kultur der Debating Culture und der Citoyenneté in Deutschland stets vermisst. Ich besitze einen deutschen Pass und habe dennoch nicht den Platz eines Citoyens in der Gesellschaft. Ich weiss, dass Deutschland ein Land mit beschädigter Identität ist und mir deshalb keine Identität geben kann. Vor dem Zustrom der Armutsflüchtlinge in diesem und dem letzten Jahr hat der Anteil der Wahldeutschen, die keine ethnischen Deutschen sind, an die 20 Prozent der Wohnbevölkerung erreicht. Wir «ausländischen Deutschen» finden die deutsche Verfassung normativ wunderbar und beanspruchen für uns alle Bürgerrechte. Ich bin beruflich ein Politikwissenschaftler und kenne den Unterschied zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit, und dies erlebe ich tagtäglich in Deutschland. Es widerspricht dem Grundgesetz-Artikel 5, wenn Vertreter des herrschenden Narrativs Andersdenkenden die Freiheit, ihre eigene Meinung zu haben, untersagen. Mir gefällt das sehr, wenn J. S. Mill dies «Tyrannei» nennt. 
Das deutsche Mantra
Ich schliesse mit einem zynischen, aber begründeten Vergleich. Ich habe in den vergangenen vierzig Jahren in 22 islamischen Ländern gearbeitet. Daher weiss ich, dass in all diesen Staaten in der Verfassung steht: «Der Islam ist die Staatsreligion.» Keiner darf ungestraft davon abweichen. Wer das tut, gilt als Ketzer und riskiert alles, einschliesslich des eigenen Lebens. Deutschland ist formal ein säkulares Land, das keine Staatsreligion in seiner Verfassung trägt. Ausserrechtlich gibt es jedoch ein Mantra namens «Willkommenskultur», verbunden mit dem Glaubenssatz «Wir schaffen das!». Wer dem nicht zustimmt, wird zwar nicht als Ketzer, dafür aber als «Populist» und «islamophob» ausgegrenzt. Armutsflüchtlinge sowie ihre veredelten vormodernen Kulturen sind in Deutschland uneingeschränkt willkommen, nicht aber «unbequeme Gedanken» (Adorno).
Trotz meiner Fähigkeit, zu differenzieren, fällt es mir schwer, zwischen einem Land wie Ägypten mit seiner Verfassungsnorm, nach welcher der Islam die Staatsreligion sei, und Deutschland mit seinem Staatsmantra der Willkommenskultur zu unterscheiden.

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